Zur Verteidigung des Parteiaufbaus

Issue: 163

John Molyneux

International Socialism 163
http://isj.org.uk/in-defence-of-party-building/
Sommer 2019, aus dem Englischen von Rosemarie Nünning

***

John Molyneux: “Die Genossen aus Southampton mögen diese Sache mit dem Parteiaufbau nicht so sehr.”

Tony Cliff: “Ich mag das auch nicht, es ist schrecklich. Leider ist es notwendig.”—Gespräch mit Cliff im Sommer 1968.

Im Februar/März dieses Jahres brach die International Socialist Organisation (ISO)1, eine der größeren Organisationen der nordamerikanischen radikalen Linken, zusammen. Nachdem eine große Mehrheit auf ihrer Konferenz im Februar die alte Führung der Gruppe abgesetzt hatte, folgten Anschuldigungen, im Jahr 2013 mit einem Fall von Vergewaltigung nicht angemessen umgegangen zu sein. Und am 28. März stimmten 77 Prozent der Mitgliedschaft für die Auflösung der ISO. Diese Abfolge von Ereignissen wird zweifellos von einigen der internationalen Linken als Bekräftigung des Arguments gegen die fortgesetzte Anstrengung des Aufbaus einer revolutionären Partei gewertet werden.

Und tatsächlich wurden schon entsprechende alte Artikel des kanadischen Marxisten David McNally und des großen marxistischen Gelehrten Hal Draper wieder hervorgeholt und in Umlauf gebracht. Mit diesem Artikel will ich auf die Lage eingehen und eine Antwort auf die vorgebrachten Argumente geben. Es handelt sich nicht um eine Autopsie der ISO, sondern ich will McNallys Artikel als eine Art Folie verwenden, um aufzuzeigen, mit welchen Argumenten ich nicht einverstanden bin, und ich werde auch kurz auf Draper eingehen. Zudem werde ich dieses Thema auch in einen übergreifenden historischen und theoretischen Kontext einordnen.

Der Fall McNally

McNally behauptet in seinem Artikel „The Period, the Party and the Next Left“, den er unmittelbar nach der Weltfinanzkrise von 2008 und inmitten der großen Wirtschaftskrise im Jahr 2009 verfasst und ihn jetzt als Reaktion auf den Zusammenbruch der ISO veröffentlicht hat, behauptet McNally, dass die Zeitumstände es weder ermöglichen noch erstrebenswert erscheinen lassen, eine kleine Partei, eine “Mikropartei”, zum Zweck der Bildung einer größeren revolutionären Arbeiterpartei aufzubauen. Er schlägt stattdessen vor, dass Sozialisten sich an der Basis der Arbeiterbewegung engagieren sollten, um eine Avantgarde der Arbeiterklasse wiederaufzubauen, wie sie seiner Vorstellung nach in den 1920er und den 1930er Jahren bestand, die im Verlauf der Geschichte aber aufgelöst wurde. Er sagt, der Ansatz des Aufbaus einer kleinen Partei ginge im Wesentlichen von dogmatischen Prämissen aus, die er wie folgt beschreibt (ich zitiere hier ausführlicher, um seinen Argumentationsgang nicht falsch darzustellen):

Das Problem der “Mikropartei”

Wie ich es sehe, zwingt die Notwendigkeit einer „neuen Linken für eine neue Zeit“ uns alle, uns mit dem Erbe des Mikroparteiansatzes auseinanderzusetzen—und mit ihm zu brechen. In ihrem Kern besteht die Mikroparteiperspektive darin zu glauben, dass der Aufbau einer kleinen revolutionären Gruppe im Wesentlichen dasselbe ist wie der Aufbau einer revolutionären Partei. Im Grunde genommen handelt es sich bei dieser Perspektive also um einen einfachen Syllogismus2:

– Es kann keine sozialistische Revolution ohne eine authentische revolutionäre Partei geben.

– Unsere Gruppe ist der Hüter der authentischen revolutionären Tradition.

– Deshalb kann es keine sozialistische Revolution ohne unsere Gruppe geben (beziehungsweise ist der Aufbau unserer Organisation der Schlüssel zu dem Aufbau einer revolutionären Massenpartei).

Statt die wirklich entscheidenden Fragen anzugehen—wie kann die Linke Praktiken, Organisationen und Kulturen der Selbstmobilisierung der Arbeiterklasse so erneuern, damit wieder eine Arbeiteravantgarde entsteht, in deren Reihen eine relevante Partei aufgebaut werden kann—werden echte sozialhistorische Probleme auf Fragen des Aufbaus der kleinen Gruppe reduziert: mehr Mitglieder gewinnen, mehr Zeitungen verkaufen, neue Ortsgruppen gründen.3

Um es gleich vorwegzusagen: Der Reiz der Vorstellung, auf die mühsame—Cliff würde sagen “schreckliche”—Routine: “mehr Mitglieder gewinnen, mehr Zeitungen verkaufen, neue Ortsgruppen gründen”, verzichten zu können, lässt sich leicht nachvollziehen. Dies umso mehr bei Genossinnen und Genossen, die die Katastrophe der ISO in den vergangenen Monaten miterlebt haben. Aber lasst mich auch sagen, dass der “einfache Syllogismus”, von dem McNally behauptet, er sei für den Aufbau einer “Mikropartei” wesentlich, von den Gründern und führenden politischen Repräsentanten der Tradition der International Socialist Tendency, aus der McNally, ich selbst, die ISO, die britische Socialist Workers Party (SWP) und das irische Socialist Workers Network (SWN) stammen, niemals geteilt wurde.4

Gehen wir seine drei Aussagen der Reihe nach durch:

Es kann keine sozialistische Revolution ohne eine authentische revolutionäre Partei geben

Oder wie Leo Trotzki sagte: “Ohne die Partei, unter Umgehung der Partei, durch ein Surrogat der Partei kann die proletarische Revolution nie siegen”.5 Das ist eine wesentliche Aussage und wurde von uns allen geteilt. Wenn das falsch war oder ist, wenn eine erfolgreiche sozialistische Revolution nicht die Führung einer revolutionären Partei erfordert oder durch eine beliebige Partei geführt werden kann (eine breit aufgestellte sozialdemokratische, eine stalinistische Partei?), dann sind all unsere kollektiven Anstrengungen der letzten 50 oder 60 Jahre und jene der Trotzkisten davor allenfalls bedeutungslos. Wie McNally jedoch genau weiß, gibt es eine Fülle historischer Erfahrungen und theoretischer Auseinandersetzungen, die darauf hindeuten, dass dies nicht der Fall ist.

Das Argument für die Notwendigkeit einer revolutionären Partei wurde in der Tradition der International Socialists so oft vertreten, dass ich nur eine sehr kurze Zusammenfassung geben will.6 Die revolutionäre Partei ist wichtig: a) weil wir einem höchst zentralisierten Feind, dem kapitalistischen Staat, gegenüberstehen; b) weil die “herrschenden Ideen stets nur die Ideen der herrschenden Klasse sind” und der Einfluss dieser Ideen in der Arbeiterklasse auf organisierte Weise bekämpft werden muss; c) weil das Bewusstsein und das Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse sich sehr ungleichmäßig entwickelt und die fortgeschritteneren Elemente der Klasse zusammengeführt werden müssen, um dem Einfluss der rückständigen und reformistischen Elemente wirksam etwas entgegenzusetzen; d) weil reformistische Parteien die Führung der Arbeiterklasse in der Revolution übernehmen und diese in die Niederlage führen werden, wenn es einer revolutionären Partei nicht gelingt, diese Rolle einzunehmen.7 Angenommen, diese Argumentation ist richtig, dann stellt sich die Frage, wie diese Partei aufgebaut werden muss.

McNally hält sich in dieser Stelle bedeckt und sagt: “Nun, lasst es mich klar sagen: Wirksame sozialistische Organisationen sind unverzichtbar für die Aufgabe der Erneuerung dessen, was ich ‘Praktiken, Organisationen und Kulturen der Selbstmobilisierung der Arbeiterklasse’ genannt habe”.8 Aber er erklärt nicht, von welcher Art sozialistischer Organisation er spricht.

Unsere Gruppe ist der Hüter der authentischen revolutionären Tradition

Das ist allerdings ein ins Leere laufender Spott ähnlich dem Kommentar am Kneipentresen: “Du glaubst immer, dass du recht hast”. Eine revolutionäre marxistische Organisation—Gruppe oder Partei—wird natürlich so gut sie kann versuchen, die “authentische revolutionäre Tradition” zu verkörpern, aber das ist etwas ganz anderes als zu glauben, sie sei der “Hüter” jener Tradition, als ob sie das Urheberrecht darauf hätte oder diese auf ihrem Bankkonto lagere. Die revolutionäre Tradition liegt auch nicht irgendwo in der Vergangenheit und ist in Aspik konserviert, sie entwickelt sich beständig. Sie reicht bis zu dem Sklavenaufstand unter Spartakus zurück, zu Gerrard Winstanley9 und den Bolschewiki, aber es gehören auch die Black Panther dazu, der Mai 68, der britische Bergarbeiterstreik, der Tahrirplatz und die Kamelschlacht, Occupy Wall Street und die Unruhen in Ferguson, Missouri, nachdem ein Polizist einen schwarzen Schüler erschossen hatte, um nur ein paar Beispiel zu nennen. Niemand ist oder kann “Hüter” dessen sein, und dieses anzustreben, wird immer ein unvollendetes Werk bleiben. Auch hier denke ich, dass die Hauptakteure bei dem Aufbau der International Socialist Tendency dem zugestimmt hätten. Wenn einige begeisterte Mitglieder der SWP, der ISO oder wer auch immer—aus Gründen der Parteiloyalität—Davids These geglaubt haben, dann ist das verständlich, aber ein Irrtum.

Deshalb kann es keine sozialistische Revolution ohne unsere Gruppe geben (beziehungsweise ist der Aufbau unserer Organisation der Schlüssel zu dem Aufbau einer revolutionären Massenpartei)

Der dritte Satz in dem vermeintlichen Syllogismus ist der Kern des Arguments von McNally, da die Aussage in Klammern lautet, dass “der Aufbau unserer Organisation der Schlüssel zu dem Aufbau einer revolutionären Massenpartei” ist, was später von McNally noch einmal so formuliert wird: “Das Problem entsteht dann, wenn der Aufbau kleiner Gruppen gleichgesetzt wird mit dem Aufbau einer revolutionären Partei an sich.” Der dritte Satz ist aber keine notwendige Schlussfolgerung aus den beiden ersten Sätzen (das „deshalb“ ist nicht legitim und hier liegt kein Syllogismus im logischen Sinne vor). Es wäre durchaus möglich, guten Grundes zu glauben, dass eine bestimmte Gruppe oder Partei zu einem bestimmten Zeitpunkt (sagen wir die Kommunistische Internationale im Jahr 1920, die Vierte Internationale im Jahr 1938 oder die ISO im Jahr 1985) die Verkörperung der authentischen revolutionären Tradition war (wenn auch nicht ihr einziger Hüter), und gleichzeitig die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass sie degenerieren und aufhören könnte, diese Tradition zu verkörpern, ohne die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution zu verwerfen. Die degenerierende oder sich auflösende Gruppe/Partei könnte auch durch eine andere ersetzt werden. Außerdem folgt aus all dem keineswegs—und wurde von der IS Tendency auch nicht so gesehen (ich kann nicht für die ISO in den vergangenen Jahren sprechen)—, dass nur der Aufbau einer bestehenden kleinen Partei mittels Einzelgewinnung von Mitgliedern der Schlüssel für “den Aufbau einer revolutionären Massenpartei” oder “Aufbau einer revolutionären Partei an sich” sei.

Ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt das sehr deutlich. In den Anfangsjahren der Socialist Review Group und der International Socialists, der Vorläufer der SWP, wurde über Parteiaufbau nur wenig oder gar nicht gesprochen (bis 1968). Die meiste Zeit wurde damals eine Entrismusstrategie in der Labour Party verfolgt, nicht um Labour zu erobern oder zu reformieren, sondern um in einem größeren politischen Umfeld zu arbeiten. Nach der Wende zum Parteiaufbau und zu offenem Leninismus im Sommer/Herbst 1968 war die Strategie des Parteiaufbaus durch “Zeitungsverkauf, Rekrutierung und neue Ortsgruppen” begleitet von einer Reihe Experimente: dem 1968er Aufruf für eine linke Einheit und dem Vorschlag des Zusammenschlusses mit Tariq Alis International Marxist Group und anderen und der Gründung eines Netzwerks aus kämpferischen Arbeitern mittels Betriebszeitungen und -organisationen. Letzteres mündete in den Versuch, eine landesweite Betriebsbewegung aufzubauen und in die Bildung von Betriebsgruppen, die völlig anders arbeiteten als die Propagandagesellschaft der traditionellen Parteiortsgruppe oder der späteren ISO.

Als mit dem Niedergang der Arbeiterbewegung in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre diese Strategie sich faktisch erschöpft hatte, versuchte die IS/SWP zunächst, die Partei durch Massenkampagnen mit der Anti-Nazi League und—in geringerem Ausmaß—der Kampagne “Recht auf Arbeit” aufzubauen. Nur angesichts eines scharfen Abschwungs der Kämpfe, dem Aufstieg von Margaret Thatcher und dem starken Sog zu dem linken Reformismus des Labour-Politikers Tony Benn ging die SWP Anfang der 1980er Jahre dazu über, sich in einer kleinen Zahl großer, geografisch organisierter Ortsgruppen mit starker Betonung der politischen Bildung und Rekrutierung der “ones and twos”, der Einzelnen, zusammenzuschließen. Das war keineswegs die Methode des “Aufbaus der revolutionären Partei an sich”, sondern eine Überlebenstaktik unter sehr widrigen Umständen.

Später unternahm die SWP den erfolglosen Versuch des schnellen Wachstums durch Aufteilung der Ortsgruppen in immer kleinere Einheiten, eine Wahlintervention links der Labour Party mittels der Socialist Alliance, schwerpunktmäßigen Aufbau einer Massenkampagne, die hoch einflussreiche Stop the War Coalition (auf Kosten des Aufbaus von Ortsgruppen, die fast völlig aufgegeben wurden), und dann daraus folgend eine andere Wahlinitiative und ein politisches Bündnis in der Form der Partei Respect. Dazu möchte ich noch auf die Entscheidung unserer deutschen Genossen verweisen, systematisch in der Partei Die Linke zu arbeiten, und auf unsere Erfahrung in Irland. Dort haben wir im Jahr 2005 das Bündnis People Before Profit (PBP) gegründet zusammen mit anderen führenden linken Aktivisten, um zu den Wahlen anzutreten. Seitdem hat sich PBP zu einer kleinen, aber bedeutenden Kraft in der irischen Politik des Nordens wie des Südens entwickelt und konnte einige ernsthafte Wahlerfolge verzeichnen (drei Mitglieder sind im Dáil, dem Parlament im Süden, und ein Mitglied ist in der Gesetzgebenden Versammlung des Nordens). Gleichzeitig ist sie eine kontinuierlich arbeitende Kampagnenorganisation. Die protorevolutionäre Partei, das Socialist Workers Network, arbeitet weiterhin in der “Hülle” von PBP und wächst.

Ich erwähne dies nicht, um eine Geschichte ununterbrochenen Erfolgs zu erzählen—ganz im Gegenteil. Ich will auch nicht behaupten, dass der jeweilige Schwenk, die Sichtweise, die Strategie—wie auch immer es genannt wird—korrekt war, sondern lediglich zeigen, dass wir nie nur ein und denselben Trick aus der Kiste gezogen haben, wie McNally mit seinem Pappkameraden-Syllogismus unterstellt. Außerdem möchte ich festhalten, dass die wichtigsten politischen Führer und Theoretiker der SWP und der IS Tendency, insbesondere Tony Cliff, Duncan Hallas und Chris Harman, aber nicht nur sie, mit der Geschichte der marxistischen Bewegung sehr vertraut waren. Ihnen war sehr bewusst, wie die Erste Internationale sich aus den Gewerkschaften heraus entwickelte und wie die Zweite Internationale als breiter Zusammenschluss von Arbeiterparteien entstand (mit ihren Stärken und Schwächen). Sie hatten sich mit den verschiedenen Entwicklungsphasen der bolschewistischen Partei befasst; mit der Debatte, ob Rosa Luxemburg sich früher von der SPD hätte abspalten sollen; damit, wie die Komintern und ihre Massenparteien aufgebaut worden waren—unter anderem indem sie die Mehrheit der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) im Jahr 1920 auf dem Parteitag in Halle für sich gewann. Sie kannten Trotzkis “Französische Wende”, als seine Anhänger Mitte der 1930er Jahre in die Sozialistische Partei Frankreichs eintraten, und vieles mehr. Sie wussten deshalb, dass sie auf ein großes Spektrum an Strategien und Taktiken bezüglich des Organisationsaufbaus zurückgreifen konnten.

Insbesondere Cliff war sich immer dessen bewusst, dass die IS/SWP und jede andere revolutionäre Möchtegernpartei sich immer wieder wandeln musste—ihre Arbeitsmethode, ihre Strukturen und so weiter—im Zusammenspiel mit dem Stand des Kampfs der Arbeiterklasse—, um auch nur annähernd ihr Ziel zu erreichen. Mein Verdacht ist, dass McNally (wenn auch auf negative Weise) zu sehr beeinflusst ist von der Arbeitsweise der britischen SWP in den 1980er Jahren (Gewinnung einzelner Mitglieder für die Mikropartei durch Rekrutierung der “ones and twos”) und meint, dass diese besondere Phase schon die ganze Geschichte sei. Dasselbe könnte auch für die ehemalige Führung der ISO gelten, wenn auch in umgekehrter Richtung. Zumindest würde es zu ihren jeweiligen politischen Biografien passen.

In diesem Zusammenhang muss auch gesagt werden, dass jede Form sozialistischer Organisation—seien es lokale Komitees, Sekten, lockere Netzwerke, Mikroparteien, mittelgroße Parteien, Massenparteien oder was auch immer—aufbauen und Mitglieder gewinnen muss, um eine gewisse Zeit zu überleben. Der objektive, von diesem System und von natürlichen Prozessen ausgeübte Druck auf radikale Sozialisten ist so stark, dass es immer gewisse Fluktuation und Verluste gibt. Solange das nicht durch Gewinnung neuer Mitglieder ausgeglichen wird, geht die Organisation zugrunde.

Zwei weitere Argumente McNallys möchte ich hier infrage stellen: seine Aussage über die “derzeitige Phase” und seine Alternative zum Parteiaufbau.

McNally schreibt:

Eine der politischen Wurzeln des Stellvertretertums kleiner Gruppen—die ich als Mikroparteimodell bezeichne—entwickelte sich aus der mechanischen Übertragung revolutionärer Perspektiven der 1920er und 1930er Jahre auf die dramatisch veränderten Bedingen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg […]. In den 1920er und 1930er Jahren gab es in der Tat in vielen Gegenden der Welt eine Avantgarde der Arbeiterklasse, eine gesellschaftliche Schicht bestehend aus Millionen Arbeitern, die sich selbst als Sozialisten sahen und oft Massenorganisationen der Linken angehörten—Gewerkschaften, sozialistischen und kommunistischen Parteien, Bewegungen von Arbeitslosen, sozialistischen Frauenorganisationen und so weiter. Zudem gab es vor allem in Europa in den Jahren 1917 bis 1923 und dann periodisch von China bis Spanien in den Jahren 1927 bis 1937 eine Reihe vorrevolutionärer Krisen, in denen der Schlüssel zu diesem historischen Moment in dem Gewinnen der Arbeiteravantgarde für eine revolutionäre Bewegung lag. In diesem Zusammenhang konnte das grundlegende politische Problem nicht als Schaffung einer Avantgardeschicht definiert werden, sondern ihre Transformation und Umorganisation durch einen ideologischen und organisatorischen Bruch mit dem Reformismus. Und deshalb versuchten Revolutionäre mittels beharrlicher Teilnahme an diesem Kampf, diese Avantgardeschicht für neue Parteien zu gewinnen, ausgehend von einem anderen (und authentisch revolutionären) politischen Projekt. Sicherlich beinhaltete diese Orientierung eine qualitative Entwicklung dieser Avantgardeschicht; aber diese Schicht selbst existierte bereits als echte gesellschaftliche Kraft.

Die kombinierte Wirkung von Faschismus, Stalinismus, Kaltem Krieg und Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit trug maßgeblich zur Zerstörung dieser Schicht bei. Nach diesen Ereignissen so zu tun, als sei das Problem der “Aufbau einer Führung” oder der “Kampf um die Führung” in der bestehenden Bewegung, war gänzlich irreführend. Eine klassenbewusste sozialistische Schicht der Arbeiterklasse musste wieder aufgebaut werden; sie stand nicht einfach zur Verfügung, wenn die kleine Gruppe nur Zugang dazu bekäme.10

Kurz gesagt, war die Strategie des Parteiaufbaus in den 1920er und Anfang der 1930er Jahre richtig, weil es bereits eine große sozialistische Arbeiteravantgarde gab, eignet sich heute aber nicht mehr, weil es heute um den Wiederaufbau dieser sozialistischen Schicht geht. Der Kontrast zwischen den Vor- und Nachkriegsbedingungen enthält offensichtlich einen Kern Wahrheit, ist aber keineswegs so absolut, wie McNally unterstellt, und lässt auch seine Schlussfolgerungen nicht zu. Anfang des Jahrhunderts gab es viele Orte, an denen es solch eine Schicht von politisierten Arbeitern nicht gab und Revolutionäre dennoch—richtigerweise und erfolgreich—eine Parteiaufbaustrategie verfolgten, obwohl sie nur eine kleine Schar waren. Russland ist das beste Beispiel dafür. Die Ursprünge der bolschewistischen Partei lagen in der kleinen, von Georgi Plechanow im Jahr 1883 gegründeten “Gruppe zur Befreiung der Arbeit”, die aus nur fünf Mitgliedern bestand. Diese Gruppe durchlief dann mehrere Phasen und entwickelte sich von kleinen Studienzirkeln, Propaganda und Agitation zu dem ersten, wenn auch erfolglosen Versuch, im Jahr 1898 eine russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei zu gründen. Es folgte der von der Zeitung Iskra ausgerichtete Kongress 1903, auf dem es zur Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki kam. All das geschah, bevor es eine Avantgarde der Arbeiterklasse, eine “gesellschaftliche Schicht bestehend aus Millionen Arbeitern, die sich selbst als Sozialisten sahen und oft Massenorganisationen der Linken angehörten”, in Russland gab. Dasselbe lässt sich auch über die Ursprünge der Kommunistischen Partei Bulgariens sagen, die im Jahr 1892 von Dimityr Blagoew als Sozialdemokratische Partei Bulgariens gegründet wurde und im Jahr 1907 bei einer Bevölkerung von 5 Millionen 1.795 Mitglieder hatte—und auch hier, ehe es eine große Arbeiterklasse gab, ganz zu schweigen von Hunderten oder Tausenden sozialistischen Arbeitern.11 Wir sollten uns daran erinnern, dass Lenins Vorstellung von der Komintern darin bestand, in möglichst jedem Land eine kommunistische Partei aufzubauen, auch in vielen unterentwickelten Ländern, in denen es nichts dergleichen wie McNallys Massenavantgarde gab.

Am stärksten ist McNallys Kritik der Praxis trotzkistischer Sekten, wie sie sich aus der Zersplitterung aufgrund des “Verzweiflungsakts” der Gründung der Vierten Internationale ergab. Aber diese Kritik, so muss gesagt werden, stammt—ob McNally das bekannt ist oder nicht—unmittelbar von Cliff, der nach 1968 zu einem der leidenschaftlichsten Parteiaufbauer wurde. Und selbst hier zeichnet McNally ein Zerrbild. Er schreibt:

Aber insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Übergang des Kapitalismus in die Phase des langen Aufschwungs wurde das Mikroparteimodell zur Orthodoxie in der Bewegung, die er [Trotzki] begründet hatte. Der Aufbau winziger Organisationen abgekoppelt von echten Massenbewegungen wurde mit dem Aufbau revolutionärer Parteien gleichgesetzt.12

In Wahrheit glaubte außer den verwirrtesten kleinen Sekten niemand daran—weder die Anhänger von Ernest Mandels Vierter Internationale noch die Militant Tendency von Ted Grant, und die IS Tendency schon gar nicht—, dass es möglich sei, revolutionäre Parteien “abgekoppelt von echten Massenbewegungen” aufzubauen. Bei all ihren Fehlern, die sie machten, waren alle der Überzeugung, dass nur durch Beteiligung an den Massenkämpfen der Arbeiterklasse der Aufbau einer revolutionären Partei möglich war. Vielleicht galt das für die kanadischen International Socialists Mitte der 1980er Jahre und vielleicht später für die ISO im 21. Jahrhundert. Aber das war niemals “die Orthodoxie” unserer Bewegung—wie auch immer diese definiert wird.

Das Problem mit McNallys Auffassung besteht nicht darin, dass er sich auf eine Massenbewegung oder auf Bewegungen beziehen will, sondern dass er in diesem Prozess nicht versuchen will, eine revolutionäre Partei aufzubauen. Was ist also die Alternative?

“Ich habe für all das kein Rezept”, sagt er. Aber das ist unredlich. Es kann solch ein “Rezept” auch nicht geben. Es ist jedoch möglich, konkrete Vorschläge zu machen. McNally nennt drei, jedoch jeweils mit großer Vorsicht:

Im Gegensatz zu den Erfahrungen der 1920er Jahre besteht die Aufgabe nicht darin, eine vorhandene Klassenavantgarde zu gewinnen, sondern Praktiken, Kampfformen und Institutionen der Linken zu fördern, die zu ihrer Entstehung beitragen. Nur in diesem Prozess kann eine wirklich revolutionäre Organisation (geschweige denn Partei) aufgebaut werden.13

Nun, Praktiken, Kampfformen und Institutionen der Linken zu fördern, die zur Herausbildung einer Klassenavantgarde beitragen, ist zweifellos etwas, das jede revolutionäre Sozialistin in den 1920er Jahren, den 1990er Jahren und heute tagtäglich an ihrem Arbeitsplatz, in ihrem Stadtviertel, in Kampagnen und so weiter anstreben sollte. Die Frage lautet, ob sie das als Individuum tut oder als Teil eines Kollektivs auf Grundlage einer koordinierten Strategie und eines Plans, der mit dem übergreifenden Projekt einer sozialistischen Revolution verbunden ist. Letzteres erfordert eine revolutionäre Partei (Gruppe, Mikropartei oder wie auch immer wir es nennen wollen). Ohne diese kollektive Diskussion, Ermutigung und Disziplin14 besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Förderung von Praktiken etc. seitens des Individuums ins Stocken gerät und verpufft.

Es gibt auch eine Konfusion bezüglich der Ebenen, auf die McNally sich bei dieser Diskussion bezieht. Er sagt, in den 1920er und 1930er Jahren habe es eine Arbeiterklassenavantgarde bestehend aus Millionen Arbeitern gegeben, die sich als Sozialisten sahen und Mitglieder von Massenorganisationen der Linken waren, aber dass die Geschichte diese weitgehend zerstört habe. Deshalb sei jede Strategie, die sich auf den Aufbau oder die Eroberung der Führung dieser nicht mehr vorhandenen Klassenavantgarde beziehe, völlig falsch.

Lasst uns für einen Moment annehmen, dass diese Beschreibung der Lage weitgehend richtig ist. Lasst uns auch annehmen, dass wir (McNally, ich und andere), wie es auch der Fall ist, uns an ein kleines Netz ähnlich gesinnter Sozialisten wenden und diese zu beeinflussen suchen—ein paar Hundert oder ein paar Tausend, maximal viele Tausend. Aber wir können aus eigener Kraft, individuell oder kollektiv, die “kombinierte Wirkung von Faschismus, Stalinismus, Kaltem Krieg und Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit” auf Millionen Arbeiter nicht rückgängig machen. Natürlich können wir zu dem Prozess der Regeneration beitragen, ganz so wie die Reduzierung des persönlichen CO2-Fußabdrucks dazu beiträgt, den Klimawandel zu stoppen. Aber unser Einfluss wird sehr gering sein. Die Wiederherstellung der Klassenvorhut im Sinne von international gesehen Millionen Arbeitern setzt voraus, dass sie sich über Massenkämpfe entwickelt, die meistenteils unabhängig von unserem Willen entstehen—oder nicht entstehen. Aber was wir hier diskutieren, ist genau das, was wir, die bewussten revolutionären Sozialisten und Marxistinnen, tun sollten.

McNally zieht Duncan Hallas zur Stützung seiner Argumente heran:

Deshalb warf Duncan Hallas, als er um 1970 schrieb, das Problem des Aufbaus einer revolutionären sozialistischen Partei zunächst wie folgt auf:

In menschlichen Begriffen muss eine organisierte Schicht aus Tausenden Arbeitern, Hand- wie Kopfarbeitern, geschaffen werden, die fest unter ihren Kollegen verankert sind und sich gemeinsam der Notwendigkeit des Sozialismus und des Wegs dahin bewusst sind. Oder besser gesagt: Sie muss wieder geschaffen werden.15

Hallas hier anzuführen, lenkt jedoch in eine falsche Richtung. Der Artikel, aus dem das Zitat stammt, “Towards a Revolutionary Socialist Party”, war ausdrücklich als Teil einer Strategie verfasst worden, die von Tony Cliff vorangetrieben wurde, nämlich mit einer relativ kleinen Gruppe—die IS-Gruppe zählte im Jahr 1968 ein paar Hundert, also eine Mikropartei mit McNallys Worten—eine substanzielle revolutionäre Partei mit einer echten Basis in der Arbeiterklasse aufzubauen. Das zeigt sich schon an dem Titel des Artikels und an der Tatsache, dass von der Schaffung “einer organisierten Schicht von Tausenden Arbeitern”, nicht Hunderttausenden (wie sie zum Beispiel damals die Vertrauensleutebewegung und die britische Labour Party repräsentierte) die Rede ist. Es ist auch erwähnenswert, dass Hallas für den Rest seines politischen Lebens diese Strategie verfolgt hat, und es war mehr oder weniger das Gegenteil dessen, was McNally in dieser Debatte befürwortet.16

McNally beschreibt seinen Neugruppierungsvorschlag wie folgt:

Ich würde auch vorschlagen, dass wir unter den heutigen Umständen—wo marxistische Strömungen völlig marginal sind und Avantgarden der Arbeiterklasse wieder aufgebaut werden müssen—uns aus echter Radikalisierung folgende Prozesse des Zusammenschlusses und der Umgruppierung vorstellen müssen. Neue Linke werden neue, sich nach links bewegende soziale Bewegungen und neue radikale Kräfte hervorbringen—moderne Entsprechungen solcher Gruppen wie DRUM17 und der League of Revolutionary Black Workers18; Basisorganisationen in den Gewerkschaften; aufständische Bewegungen für sexuelle Befreiung und die Rechte zugewanderter Arbeiter; neue radikale Arbeiterzentren; neue Bewegungen von Arbeiterinnen; neue studentische Linke—, deren radikalste Elemente zusammengebracht werden müssen, um bedeutsame “Vorparteiformationen” zu schaffen, um viel größere, viel stärker verankerte revolutionäre Strömungen zu schaffen, die uns bei dem Aufbau revolutionärer Organisationen auf eine ganz neue Ebene heben können.19

McNallys These, verfasst im Jahr 2009, dass wir vor der Entstehung neuer, nach links strebender sozialer Bewegungen stünden, erwies sich als richtig. Sie wurde durch Entwicklungen, die wir alle kennen, insbesondere in den Vereinigten Staaten, aber nicht nur dort, bewiesen—offensichtliche Beispiele wären die Occupy-Bewegung im Jahr 2011, Black Lives Matter, Standing Rock, die Bewegung für Bernie Sanders, die Women’s Marches gegen Trump und #MeToo. Und er hatte auch recht, diese Entwicklungen als Chance zu begreifen, nicht als Bedrohung. Er hatte ebenfalls recht, dass “die radikalsten Elemente dieser Bewegungen zusammengebracht werden müssen”. Das eigentliche Problem ist jedoch die von ihm für diesen Prozess vertretene Etappentheorie; seine Betonung, dass dieses Zusammenbringen sogar der Gründung von “Vorparteiformationen” vorausgehen müsse. Mit anderen Worten, er stellt die Neugruppierung von Elementen dieser Bewegungen dem Aufbau oder der Fortsetzung des Aufbaus einer Partei gegenüber.

McNallys dritter Vorschlag besteht darin, Konferenzen abzuhalten:

Wir müssen auch Möglichkeiten für breiter angelegte Initiativen ausloten, wie (nationale und halbinternationale) Konferenzen…unterstützt von einer Vielzahl ernsthafter linker Publikationen, die Hunderte Menschen unterschiedlichen radikalen und revolutionären Hintergrunds zusammenbringen können, um sich an Gesprächen und Beratungen zu beteiligen, Erfahrungen auszutauschen und darüber zu diskutieren, wie die Arbeit der echten Linken auf ein größeres Feld übertragen werden kann.20

Von den drei Vorschlägen ist dies der konkreteste, der auch am ehesten umgesetzt werden wird. Tatsächlich wurde er schon umgesetzt und zweifellos mit McNallys aktiver Beteiligung; die Konferenzen Historical Materialism sind das offensichtlichste Beispiel dafür. Aber so großartig sie auch sein mögen, es ist zweifellos eine Illusion zu glauben, dass solche Konferenzen einen Weg zum Aufbau einer neuen Klassenvorhut oder gar einer kleinen protorevolutionären Partei in der Arbeiterklasse bilden.

Kurz gesagt bedeuten alle Vorschläge von McNally genau genommen die Verschiebung des Aufbaus einer Partei in die ferne Zukunft. Das mag im Jahr 1850 (als Karl Marx so entschied) oder 1952 nachvollziehbar gewesen sein, und ich werde auf diese historischen Entscheidungen zurückkommen, jetzt jedoch tickt die Uhr. Ich denke, wir haben nur noch sehr begrenzte Zeit, bevor die Alternative Sozialismus oder Barbarei angesichts der umfassenden Umweltkrise, die wir erleben, sehr konkret wird. Wenn, wie ich eingangs sagte, die revolutionäre Partei für den Sieg des Sozialismus notwendig ist, dann ist die Aufgabe des Parteienaufbaus allerdings dringend.

Eine Anmerkung zu Hal Draper

Auch ein Artikel des großen marxistischen Gelehrten Hal Draper aus dem Jahr 1973, “Anatomy of the Micro-Sect”, wird in der derzeitigen Debatte ins Feld geführt, manchmal als handele es sich um eine vorausschauende Warnung bezüglich der Entwicklung der ISO. Draper zieht weitgehend ähnliche Schlussfolgerungen wie McNally, ist jedoch nach meiner Wahrnehmung bezüglich Theorie und Geschichte noch fehlerhafter. Ich werde kurz darauf eingehen.

Draper stellt in seinem Artikel zwei Arten von Organisationen gegenüber: die “Sekte” und “die politische Arbeiterpartei”. Die Sekte oder “Mikrosekte” präsentiert sich laut Draper “selbst als die Verkörperung der sozialistischen Bewegung, obwohl es sich um eine Mitgliederorganisation handelt, deren Grenzen mehr oder weniger starr durch ihre politischen Programmpunkte definiert sind, statt durch ihre Beziehung zu dem sozialistischen Kampf”. Sie stellt “ihr Sektenkriterium von Programmpunkten gegen die reale Bewegung von Arbeitern im Klassenkampf, die ihren hohen Ansprüchen nicht gerecht werden”. Dagegen gilt: “Eine Arbeiterpartei ist nicht nur eine Wahlorganisation, sondern—ob sie an Wahlen teilnimmt oder nicht—eine Organisation, die wirklich der politische Arm wichtiger Abteilungen der Arbeiterklasse ist, die politisch die Arbeiterklasse so widerspiegelt wie sie ist (oder wie durch ein Prisma bricht)”.21

Draper lässt sich beredt über die Verrücktheiten der Sekte aus (tatsächlich macht er sich eher über sie lustig, statt sie zu analysieren), aber widmet sich kaum den ernsthaften Schwächen einer Massenpartei, die die “Arbeiterklasse in Bewegung so widerspiegelt wie sie ist”, namentlich ihre historische Neigung zum Reformismus. Das ist sehr wichtig, weil diese Frage für eine revolutionäre Partei historisch wie theoretisch immer entscheidend war. Eines der grundlegenden Merkmale der von Lenin und der Komintern vorgeschlagenen kommunistischen Parteien im Unterschied zu den Parteien der Zweiten Internationale bestand darin, dass sie nicht einfach die Arbeiterbewegung durch Beibehaltung eines reformistischen Flügels widerspiegeln sollten.22

Drapers starke Zweiteilung—Sekte oder Arbeitermassenpartei—schließt auch Zwischen- und gemischte Formationen aus: Massenparteien, die sektiererisch sind (die Kommunistische Partei Deutschlands in der “Dritten Periode” Ende der 1920er Jahre), mittelgroße sektiererische Parteien (die heutige Kommunistische Partei Griechenlands) und solche, die nicht sektiererisch, aber vielleicht opportunistisch sind (die POUM23 in Spanien 1936/37) und so weiter in einem komplexen Kontinuum.

Draper behauptet forsch, dass keine “Mikrosekte” jemals zu einer echten Arbeiterpartei wurde. Wenn Draper mit “Mikrosekte” eine sehr kleine Gruppe mit sektiererischem Verhalten meint (wie er es definiert), dann hat er sicherlich recht. Aber wenn er meint, dass keine politisch klar umrissene Kleingruppe jemals zu einer großen Partei mit Arbeitermassenmitgliedschaft wurde, stimmt das nicht. Denn das galt für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, aber auch bis zu einem gewissen Grad und auf etwas andere Weise für die KP Chinas, die KP Bulgariens, die KP Italiens und die KP Südafrikas (und es gibt viele weitere Beispiele).

Die von Draper tatsächlich vorgeschlagene Strategie war die Bildung eines “politischen Zentrums”, im Wesentlichen eine Zeitschrift, die keiner Gruppe oder Partei angegliedert ist (und somit keiner Mitgliedschaft gegenüber demokratisch rechenschaftspflichtig), als Übergang zur Bildung einer Arbeitermassenpartei. Seine eigenen Bemühungen in dieser Hinsicht, das Independent Socialist Committee, erwiesen sich als fruchtlos, und die Geschichte kennt mehr solcher gescheiterter Versuche, als Draper auch nur zu erwähnen gedenkt: zum Beispiel die New Left Review mit der Neuen Linken im Jahr 1956 und Black Dwarf 1968. Der Fall jedoch, den er heranzieht, um seinen Ansatz zu rechtfertigen, nämlich Lenin und die Iskra, stützt sich auf eine sehr selektive und tendenziöse Darstellung der Geschichte des Bolschewismus, wobei er seine Entwicklung vor 1901 (die Gruppe “Befreiung der Arbeit”, die Studienzirkel, Fabrikagitation, frühe Parteibildung, den schlechten Start der russischen SDLP im Jahr 1897) und sogar die Spaltung von Bolschewiki und Menschewiki im Jahr 1903/1904 auslässt.24 Bei Letzterem ging es eben um die Spaltung in eine “harte” Partei im Gegensatz zu einer größeren, loseren Partei. Ich kann kaum glauben, dass der Lenin von 1903/1904 nach Drapers Kriterien und seinem Ansatz nicht als Mikrosektenaufbauer abgelehnt worden wäre (was viele seinerzeit taten).

Probleme des Parteiaufbaus

Meine Kritik an den Argumenten von McNally und Draper, die den Versuch des Aufbaus einer Partei auf unbestimmte Zukunft verschieben, soll nicht heißen, dass der Aufbau einer kleinen Partei zu einer bedeutsamen politischen Kraft, die in der Lage ist, eine Revolution anzuführen, einfach geradlinig verläuft oder dass viele Fallstricke, die sie nennen, keine echte Gefahr wären. Im Gegensatz zeigt die Geschichte, dass der Aufbau einer revolutionären Partei nicht einfach ist—wir können uns nur auf ein zum Teil erfolgreiches Beispiel berufen—und dass dieser Prozess auf Schritt und Tritt mit Schwierigkeiten behaftet ist.

Ich erinnere mich, wie Cliff auf die Frage, was die größte Schwierigkeit bei dem Aufbau einer sehr kleinen Gruppe ist, antwortete: nicht Opportunismus oder Sektierertum, sondern “persönliche Beziehungen”. Genossinnen und Genossen gehen persönliche Beziehung ein und manchmal enden diese Beziehungen dramatisch oder geraten in die Krise. In einer größeren Partei kann das in der Regel viel einfacher aufgefangen werden; in einer Gruppe von zwanzig oder dreißig Personen ist das schwieriger. Abgesehen davon besteht die Hauptschwierigkeit bei dem Aufbau einer revolutionären Partei in dem Druck, der auf Sozialisten von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeübt wird—und das auf jeder Ebene: körperliche Unterdrückung, wirtschaftliche Härte, Druck der vorherrschenden Ideologie, Karriere und andere Versuchungen, allesamt häufig über den Sog des Reformismus vermittelt. Tatsächlich hat der Reformismus selbst einer kleinen, aber wichtigen Schicht der sozialistischen und Arbeiterbewegung immer einen Übergang aus den Wechselfällen des einfachen Arbeiter- und des revolutionären Aktivistenlebens geboten, zumindest in den Randbereich des Establishments mithilfe parlamentarischer Wahlen und—noch wichtiger—in die Gewerkschaftsbürokratie.

Gerade wegen des unerbittlichen Drucks des Kapitalismus entsteht auch die akute Gefahr des Sektierertums und der Sektenmentalität. Um dem Sog von Opportunismus und Reformismus zu widerstehen und um mit den materiellen und psychologischen Schwierigkeiten des Lebens in einem ständigen Zustand engagierten Widerstands gegen die bestehende Ordnung klarzukommen, neigt jede Kleingruppe zur Entwicklung einer Reihe von Verteidigungsmechanismen gegen die Außenwelt. Mitglieder bleiben eng zusammen, reden lieber miteinander als mit “normalen” Menschen. Genossen flüchten sich in eine Reihe von Dogmen—die Linie—, die sie aus den Klassikern (oder von der Interpretation der Klassiker durch ihre Gruppe) beziehen und auswendig lernen.

Unter diesen Umständen entsteht eine andere ernsthafte Gefahr: eine autoritäre Führung, die als Quelle aller Weisheit gilt. Dieses Phänomen entwickelt sich nicht in erster Linie aus dem schlechten Charakter dieser Führung, sondern aus einer ungesunden politischen und sozialen Beziehung zwischen Führung und Geführten. Das gilt umso mehr, wenn das Niveau von Kämpfen sehr niedrig ist und die Bewegung viele wiederholte Niederlagen erlitten hat oder die Mitglieder von dem Kampf abgekoppelt sind. In dieser Situation stehen sie als isolierte Einzelne einer Parteiführung gegenüber. Dagegen ist es in einer Zeit zunehmender Kämpfe, in die sie eingreifen, für Arbeiterführer oder führende Leute in ihrem Stadtviertel oder für aktive Studierende leichter, für sich selbst und auch für das Kollektiv hinter ihnen mit einer berufsmäßigen Führung zu debattieren. Die Vorstellung, gegen den Chef, die Regierung, die herrschende Klasse, das Weltsystem, die reformistischen Politiker, die Gewerkschaftsfunktionäre und deine eigene Parteiführung zu kämpfen und das weitgehend alleine, ist für viele einfach zu viel.25 Und das Problem mit “unfehlbaren” Führungen besteht darin, dass sie mit Strategien und politischen Praktiken überdauern können, die der konkreten Lage nicht angemessen sind, ohne durch demokratische Mechanismen korrigiert zu werden.26

An dieser Stelle muss betont werden, dass es eine Reihe formeller Positionen gibt, die historisch mit ultralinker Politik und Sektierertum verbunden werden und in der Geschichte auch von der marxistischen Tradition verurteilt wurden. Dazu gehört zum Beispiel die Weigerung, in den Gewerkschaften zu arbeiten, die Weigerung, sich an bürgerlichen Wahlen zu beteiligen, und die Ablehnung der Einheitsfront (insbesondere gegen den Faschismus). Aber es ist einer Organisation möglich, all diese gut bekannten Dummheiten abzulehnen und dennoch eine Sektenmentalität zu entwickeln, die sich daran zeigt, wie die Organisation auf die Herausforderungen des Klassenkampfs reagiert oder nicht reagiert. Auf dieselbe Weise ist es einer Organisation möglich, auf die Theorie der permanenten Revolution und Lenins “Staat und Revolution” zu schwören, und doch in reformistische oder opportunistische Praxis zu verfallen.

Das Committee for a Workers International (CWI) zum Beispiel, das von der Socialist Party in England und Wales repräsentiert wird, hätte die meisten formellen Tests (zumindest in der Theorie) bestanden, hat jedoch eine ernsthaft sektiererische Praxis entwickelt aus Angst vor (oder Feindschaft zu) der Arbeit in Bewegungen oder Kampagnen, die es nicht kontrolliert, und es ist sehr zögerlich, wegen der möglichen “Kontamination” seinen Mitgliedern eine zu enge Zusammenarbeit mit anderen Sozialisten zu erlauben. Die britische SWP war auf theoretischer Ebene immer ziemlich orthodox, ich würde jedoch sagen, dass sie zum Beginn des Bergarbeiterstreiks und der Kampagne gegen die Kopfsteuer eine sektiererische Haltung einnahm, während sie in den Jahren 2004 bis 2007 eine eher opportunistische Beziehung zu George Galloway und die Partei Respect einging. Die ISO reagierte auf sektiererische Weise auf die “Schlacht von Seattle” und den Aufstieg der antikapitalistischen Bewegung und scheint in den folgenden Jahren eine ernsthafte Sektenmentalität entwickelt zu haben.

Ich möchte betonen, dass ich diese Beispiele nicht erwähne, um die CWI, die SWP oder die ISO zu kritisieren (und schon gar nicht, um anzudeuten, dass alle Fehler hätten vermieden werden können, wenn das richtige Modell übernommen worden wäre). Ich würde sogar sagen, dass es faktisch unmöglich ist, über längere Zeit eine Partei aufzubauen, ohne auf die eine oder andere Weise Opfer dieser gegensätzlichen Art von Druck zu werden. Die bolschewistische Partei selbst, sollten wir uns erinnern, war bezüglich ihrer anfänglichen Reaktion auf die Arbeiterräte (Sowjets) von 1905 sektiererisch, sie war ultralinks bezüglich der Beteiligung an der Staatsduma27 im Jahr 1906/1907 und opportunistisch in der ersten Phase der Revolution von 1917. Einfach nur größer werden, was natürlich erstrebenswert ist, ist nicht an sich schon ein Schutz, da es auch den Druck des Reformismus erhöht. Klein und “rein” bleiben ist keine Lösung, denn die “Reinheit” erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich Sektenmentalität breitmacht.

Aber so wie McNally und Draper in dieser Frage die Hände in Unschuld zu waschen, ist auch keine Lösung. Und das nicht nur, weil die Partei für einen Sieg notwendig ist, sondern wegen all der anderen Arten von Praxis, die sie vorschlagen—Magazine, die als politische Zentren funktionieren, aktivistische Gruppen vor Ort, Gewerkschaftsversammlungen, internationale Konferenzen und so weiter unterliegen diesem Druck und der Deformation ganz genauso wie revolutionäre Möchtegernparteien, wenn nicht sogar mehr, insbesondere weil sie meist nicht über entscheidende Elemente der demokratischen Rechenschaftspflicht gegenüber einer engagierten Mitgliedschaft verfügen.28

Ein Missverständnis sollte hier ausgeräumt werden, nämlich die Behauptung, das Problem bestünde im demokratischen Zentralismus als Organisationsform. Zunächst einmal: Jede Art Partei oder Kampagnenorganisation enthält Elemente des Zentralismus, oder sie kann nicht als Organisation funktionieren. Jede freiwillig gebildete Organisation enthält Elemente der Demokratie, selbst wenn es nur das Recht ist, sie zu verlassen. Weiterhin gibt es ohne Zentralismus kein Mittel, durch das sich Demokratie, der Wille der Mehrheit, gegenüber der Führung durchsetzen kann. Nehmen wir die britische Labour Party als Beispiel: Einerseits verhindert die Tatsache, dass sie nicht “demokratisch-zentralistisch” ist, nicht, dass sie ein drakonisches Disziplinarsystem hat, das eingesetzt wird, um Dissidenten (propalästinensische) wie Ken Livingstone, Mark Wadsworth, Jackie Walker und Chris Williamson mit Sanktionen zu belegen oder auszuschließen. Andererseits lässt sie es zu, dass die “da oben”, die Labour-Abgeordneten, ständig Jeremy Corbyn und seine Politik sabotieren—und damit die Mehrheit der hinter Corbyn stehenden Partei.

In Wirklichkeit ist der demokratische Zentralismus die beste zur Verfügung stehende Methode, um dafür zu sorgen, dass die Parteiführung demokratischer Kontrolle unterliegt—auch wenn es keine Garantie oder ein Allheilmittel ist (es gibt weder das eine noch das andere). Das heißt nicht, dass in jeder Phase der Entwicklung einer Organisation und unter allen Bedingungen der demokratische Zentralismus überall gleich angewendet werden muss. Organisationsformen müssen sich den veränderten Umständen anpassen.

Deshalb gibt es keine Alternative zu dem Versuch, revolutionäre Parteien aufzubauen, während gleichzeitig ständig darum gekämpft werden muss, die Stromschnellen des Klassenkriegs zu meistern, nicht zu meiden, und dabei hin und her geworfen zu werden, ohne auf dem Felsen rechts oder links zu zerschellen.

Die Erfahrung zeigt, dass es bei diesen fortgesetzten Bemühungen eines gibt, das uns gegen Opportunismus wie Sektierertum und insbesondere gegen Sektenmentalität schützen kann: Das ist die reale Beteiligung an den Alltagskämpfen der Menschen in den Betrieben, den Gewerkschaften, Gemeinden und in den Kampagnen. Dieses Engagement kann sich nicht auf die Ebene der Worte beschränken, mittels des korrekten Übergangsprogramms etc. Es muss real sein, von Angesicht zu Angesicht, tagtäglich. Solch eine Interaktion bringt uns, nach einer irischen [und deutschen] Redewendung “Manieren bei”, der Führung wie den Mitgliedern. Sie schafft einen Gegendruck zu dem vom Kapitalismus und von reformistischen Parteien ausgeübten, die sich auf die Passivität der Arbeiterklasse stützen. Sie hemmt die Sektenmentalität, hält eine arrogante Führung zurück (weil die Genossinnen und Genossen an der Basis sich gestärkt fühlen, sich in konkreten, unmittelbaren Fragen zu behaupten) und hilft den Parteimitgliedern zu lernen, wie man mit Menschen der Arbeiterklasse spricht, nicht nur untereinander. Es haucht dem stehenden Gewässer des Sektenlebens echtes Leben ein.

Selbst in den Anfangstagen von Cliffs Socialist Review Group (und dann der IS) in den 1950er und 1960er Jahren, als diese noch sehr klein war, griff sie über Geoff Carlsson und andere aktiv in den Konflikt bei der Maschinenbaufirma ENV in London ein, nahm an der Kampagne gegen atomare Aufrüstung (Campaign for Nuclear Disarmament, CND) teil, brachte im Jahr 1966 Cliffs und Colin Barkers Broschüre zu “Einkommenspolitik, Gesetzgebung und Vertrauensleute”29 heraus, um damit in die Bewegung der Vertrauensleute einzugreifen, und war im Jahr 1968, auf dem Höhepunkt der Studierendenrevolte und der Kampagne für Solidarität mit Vietnam, auch an dem Widerstand gegen Mietenerhöhung beteiligt. Ähnlich hatte die irische SWP in ihren Anfängen enge Beziehungen zu Beschäftigten in der Waterford-Glass-Fabrik, wo sie eine Fabrikgruppe hatte, und spielte später eine wichtige Rolle in der Kampagne gegen die Einführung von Gebühren für die Müllabholung (Bin Tax Campaign).

Diese Art von Beziehung mit der Arbeiterklasse ist nicht—um es zu wiederholen—ein Rezept oder eine Garantie, sondern eine Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung. Die fast völlige Abwesenheit solch einer fortgesetzten Beziehung mit Arbeitergemeinden und Kampagnen war, so denke ich, ein wesentlicher Faktor für das harte Regime in der ISO, das Verhalten der Führung und die Aushöhlung der Moral ihrer Mitglieder und ihres politischen Willens bis zum Zusammenbruch und zur Auflösung Anfang dieses Jahres.

Historische Entscheidungen

McNally und vor ihm Draper haben die Frage aufgeworfen, ob der Aufbau einer revolutionären Organisation sofort in Angriff genommen werden oder auf später verschoben werden sollte. Mit dieser Frage waren Revolutionäre in der Vergangenheit oft konfrontiert.

Im Jahr 1850, nach der Niederlage der Revolution von 1848, zog Marx sich eine Weile von jeder organisierten politischen Aktivität zurück. Dafür gab es drei Gründe: Erstens deuteten die wirtschaftlichen Aussichten auf eine starke Expansion des Kapitalismus hin, die eine unmittelbar bevorstehende Revolution ausschloss. Zweitens wollte Marx dem, wie er es sah, fruchtlosen Gezänk der Emigrantenkreise entkommen. Drittens musste er sich dringend auf die Abfassung seines Werks “Das Kapital” konzentrieren. Hinzufügen können wir, dass Marx aus sehr verständlichen historischen Gründen die Notwendigkeit einer unabhängigen revolutionären Partei nicht wirklich erkannte, weil er hoffte und sich vorstellte, dass eine Arbeitermassenpartei sich mit Beginn des Kampfes in eine revolutionäre Richtung entwickeln würde. Und er unterschätzte die konterrevolutionäre Rolle des Reformismus.30

Lenin schlug in den dunklen Tagen des Jahres 1910, als nach der Niederlage der Revolution von 1905 und mit dem Einsetzen brutaler Unterdrückung die bolschewistische Partei auf ein paar Hundert Mitglieder geschrumpft war, die entgegengesetzte Richtung wie Marx im Jahr 1850 ein. Er hielt an den Resten der Partei mit aller Kraft fest und “Liquidator” wurde das beleidigendste Wort in seinem Vokabular.

Zweifellos spielte Lenins Persönlichkeit dabei eine Rolle, aber seine Erfahrung mit nach rechts driftenden Tendenzen wie dem Bernsteinismus in Deutschland und dem Menschewismus in Russland dürfte ihn bereits von der Notwendigkeit überzeugt haben, den Opportunismus und Reformismus organisatorisch wie theoretisch zu bekämpfen.

In den 1930er Jahren kämpfte Trotzki, nachdem die KPD an der Aufgabe gescheitert war, Hitlers Machtergreifung zu verhindern, mit Zähnen und Klauen und unter schwierigsten Umständen dafür, international neue revolutionäre Gruppen und Parteien aufzubauen. Er betrachtete das als “die wichtigste Aufgabe meines Lebens”.31 Im Gegensatz dazu zog Isaac Deutscher, der sich im Jahr 1938 gegen die Gründung der Vierten Internationale aussprach, von praktischer Aktivität in den “Wachturm” zurück, wie er es nannte.32

In dem revolutionären Jahr 1968 trennten sich faktisch die Wege der zwei wichtigsten Theoretiker und Führer der International Socialists, Cliff und Mike Kidron. Cliff stürzte sich in den Aufbau der Partei und die “Hinwendung zur Klasse”, während Kidron sich immer mehr von praktischer Aktivität zurückzog und schließlich Ende der 1970er Jahre die Partei ganz verließ.

Betrachten wir die Bilanz dieser Entscheidungen: Lenin und seine Partei führten am Ende die größte Revolution der Geschichte an. Die “Liquidatoren” von 1910/1911 entwickelten sich zu Konterrevolutionären. Trotzki rettete trotz aller Widrigkeiten die Ehre und das Erbe des authentischen Marxismus und gab es an die folgenden Generationen weiter. Deutscher schrieb ein großartiges Buch, seine Biografie über Trotzki, baute aber nichts auf und passte sich schließlich dem Stalinismus an.33 Cliff baute die SWP zu einer führenden Position der britischen radikalen Linken und die IS Tendency international auf, wie er auch wichtige theoretische Beiträge an verschiedenen Fronten leistete. Bedauerlicherweise nahm selbst Kidrons theoretische Arbeit immer mehr ab.

Vor allem aber gelten die Bedingungen, die Marx’ Entscheidung im Jahr 1850 rechtfertigten (und die er im Jahr1864 mit seiner Beteiligung an der Ersten Internationale und der Übernahme der Führung revidierte), heute nicht mehr. Wir stehen nicht vor einer großen Expansion des Systems, im Gegenteil: Es steht kurz vor einer neuen Rezession, und selbst wenn es eine Zeit lang die Rezession vermeiden kann, eilt es mit Riesenschritten auf eine Klimakatastrophe und auf eine Umweltkrise zu, die den Klassenkampf weltweit erheblich verschärfen wird. Das internationale Proletariat ist größer als je zuvor, mit immensen Kraftreserven—siehe die großen Aufstände in Sudan und Algerien und das Potenzial in China und Indien. Ja, die radikalen Rechten und Faschisten gewinnen in Europa und andernorts an Boden, aber sie können zurückgeworfen werden. Und die Linke ist in den USA im Aufschwung und so groß wie seit Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre nicht mehr. Außerdem gibt es die Klimarevolte der Jugend. Und anders als 1850 können wir jetzt auf eine marxistische Weltanschauung zurückgreifen, die zwar nicht vollständig ist—und nie sein wird—, aber von Marx und Friedrich Engels und ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern umfassend formuliert wurde, und wir haben reichlich Erfahrung mit der tödlichen Rolle des Reformismus.

Wenn die Theorie der Partei richtig ist (was niemand wirklich anfechtet), sind ernsthafte revolutionäre Sozialisten folglich verpflichtet, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dort, wo sie sind, Parteien aufzubauen und das Projekt nicht einfach aufzugeben. Wichtig ist dabei, meiner Ansicht nach, gegenüber den neuen Kämpfen und Bewegungen, die derzeit überall auf der Welt entstehen, einen Ansatz zu vermeiden, der lautet: “Was sind denn das für Leute, die dahingehen?” Zwei herausragende aktuelle Beispiele hierfür sind die Gilets Jaunes in Frankreich und die neue Revolte wegen des Klimawandels. Die Gilets Jaunes haben alle Erwartungen hinsichtlich ihrer Radikalisierung und ihres Beharrungsvermögens übertroffen. Als Revolutionäre abseits dieser großen Bewegung zu stehen, weil sich in ihr unappetitliche und widersprüchliche Elemente befinden, wäre eine sektiererische Torheit gewesen.34 Gleichzeitig wäre die Beteiligung der revolutionären Linken Frankreichs, insbesondere der Nouveau Parti anticapitaliste (NPA) sicherlich effektiver gewesen, wenn sie besser zusammengehalten hätte. Die Klimastreikbewegung der Schülerinnen und Schüler ist in vielen Ländern spektakulär und inspirierend,35 ebenso der von Extinction Rebellion (XR) in London im April organisierte zivile Widerstand. Wie bei den Gilets Jaunes haben solche neuen und jugendlichen Bewegungen notwendigerweise viele Fehler und Illusionen und beinhalten Widersprüche. Das ist umso mehr ein Grund für eine begeisterte Beteiligung revolutionärer Sozialistinnen und Sozialisten, die umso effektiver sein wird, wenn sie auf einer kohärenten Politik und einer antikapitalistischen Weltanschauung beruht.

Und schließlich gibt es die großartige Revolution im Sudan und den sich entfaltenden Massenkampf in Algerien.36 Im Zusammenhang mit dieser Diskussion werfen diese epischen Ereignisse meiner Ansicht nach folgende Fragen auf: Erstens: War die große ägyptische Revolution von 2011 bis 2013 stärker aufgrund der Existenz einer protorevolutionären Partei, die mit anfänglich nur wenigen Leuten systematisch aufgebaut wurde? Zweitens: Wäre die Revolution besser in der Lage gewesen, Abdel Fattach al-Sisis Konterrevolution im Jahr 2013 abzuwehren, wenn die Revolutionären Sozialisten eine sehr viel größere Organisation mit stärkerer Verankerung in der Arbeiterklasse gewesen wären? Drittens: Würde die sudanesische Revolution (und die algerische) von der Anwesenheit solch einer Organisation profitieren? Meine Antwort auf diese drei Fragen lautet Ja, und das beinhaltet die eindeutige Zurückweisung von McNallys und Drapers Auffassung.

John Molyneux ist Herausgeber der Irish Marxist Review und Verfasser mehrerer Bücher, einschließlich “Lenin for Today”, “Marxismus und Partei” und “Marxismus und Anarchismus”.


Fußnoten

1 Die ISO wurde im Jahr 1977 in den USA ins Leben gerufen. Bis zum Jahr 2001 war sie Teil der International Socialist Tendency (IST) und damit Schwesterorganisation der britischen Socialist Workers Party. Im Jahr 2001 wurde sie aus der IST ausgeschlossen, weil sie die Spaltung der griechischen IST-Schwesterorganisation SEK betrieb, nachdem es einen großen Streit mit der IST-Mehrheit über die taktischen Beziehungen zu der aufstrebenden antikapitalistischen Bewegung nach der “Schlacht von Seattle” im Jahr 1999 gab.

2 Syllogismus: aus zwei Prämissen (Grundannahmen) gezogene Schlussfolgerung; d. Übers.

3 McNally, 2019.

4 McNally war einer der Gründer und Führer der International Socialists Canada, Schwesterorganisation der SWP und des SWN, spaltete sich jedoch Mitte der 1990er Jahre mit einigen anderen ab, um die New Socialist Group zu gründen.

5 Trotzki, Leo, 1917: Die Lehren des Oktobers (1924): www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1924/lehren/kap7.htm

6 In gewisser Hinsicht stellt der ganze vierte Band von Tony Cliffs Lenin-Biografie eine Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit der Partei dar. Siehe aber auch Cliff, Hallas, Harman und Trotsky, 1971, Molyneux 1978, und neueren Datums Molyneux, 2017, und vieles mehr.

7 Es ist auch richtig, nicht nur für die historische Notwendigkeit der Partei für den Fall der Revolution zu argumentieren, sondern auch für die positive Rolle in Bezug auf Kämpfe und Kampagnen im Hier und Jetzt. Aus Platzgründen bin ich an dieser Stelle nicht darauf eingegangen, aber siehe hierzu meinen Aufsatz zu Irland in: Molyneux, 2016.

8 McNally, 2019.

9 Gerrard Winstanley war Anführer der radikalen Bewegung der frühkommunistischen Digger Mitte des 17. Jahrhunderts in England, die für Landumverteilung kämpften; d. Übers.

10 McNally, 2019.

11 Siehe die Darstellung in: Cliff, 1979, Kapitel 6.

12 McNally, 2019.

13 McNally, 2019.

14 Mit Disziplin meine ich hier die des Kollektivs, nicht die Anordnungen der Parteiführung. Interessanterweise war dies einer der Hauptstreitpunkte bei der Spaltung in Bolschewiki und Menschewiki im Jahr 1903—siehe die Diskussion in: Molyneux, 1978, S. 52 – 54. Siehe auch das Zitat von Raya Dunayevskaya: “Die Disziplinierung durch die Ortsgruppe war für Lenins Vorstellung so wichtig, dass sie über der verbalen Befolgung der marxistischen Theorie, der Propagierung marxistischer Ansichten und der Mitgliedskarte stand”; Dunayevskaya, 1972, S. 180, zitiert nach: Molyneux, 1978, S. 53.

15 Cliff, Hallas, Harman und Trotsky, 1971, S. 9, zitiert nach: McNally, 2019.

16 Als jemand, der Duncan Hallas ziemlich gut bis zu seinem Tod kannte und großen Respekt für ihn hatte, muss ich gestehen, dass mir etwas unwohl dabei ist, wenn ich sehe, wie häufig er in Debatten in der und bezüglich der ISO zitiert wird. Ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, er wird so häufig zitiert, weil er nicht Tony Cliff ist, der einen sehr scharfen Bruch mit der Führung der ISO vollzog. Ich denke, auch Duncan Hallas hätte sich unwohl gefühlt.

17 Die Dodge Revolutionary Union Movement (DRUM) wurde 1968 in den USA als afroamerikanische Arbeiterorganisation in den Chrysler-Werken gegründet; d. Übers.

18 Die Liga der Revolutionären Schwarzen Arbeiter wurde als Dachorganisation der gewerkschaftlichen Selbstorganisation für Gruppen wie DRUM gebildet; d. Übers.

19 McNally, 2019.

20 McNally, 2019.

21 Draper, 1973.

22 Siehe Cliff, Hallas, Harman und Trotsky, 1971, insbesondere S. 48–50.

23 Partido Obrero de Unificación Marxista—Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit, d. Übers.

24 Cliff, 1975, bietet die beste und detaillierteste Darstellung und Analyse dieser Zeit.

25 Ein ähnlicher sozialpsychologischer Mechanismus war am Werk, um Illusionen in den Stalinismus aufrechtzuerhalten, erst recht, als sich der Faschismus im Aufstieg befand.

26 Natürlich behauptet niemand in der marxistischen Bewegung, unfehlbar zu sein, auch die Basis nimmt die Führung nicht so wahr. Die Mitgliedschaft beginnt jedoch zu glauben, dass die Führung in jeder konkreten Situation recht hat. Und wenn die Führung selbstbewusst ist und immer Unterstützung erfährt, kann sie leicht die Gewohnheit entwickeln, die Dissidenten zu “vernichten” und zu “zerschlagen” (verbal natürlich).

27 Das vom Zaren nach 1905 gewährte Parlament; d. Übers.

28 Wer Erfahrung mit “der Bewegung” hat, weiß, wie wahr das ist. Jon Lansmans Gruppe Momentum in der Labour Party ist ein aktuelles Beispiel dafür. Hier überschneiden sich die Argumente gegen Anarchismus und die “Tyrannei der Strukturlosigkeit”, um Jo Freemans treffende Formulierung aus den 1960er Jahren aufzugreifen. Siehe Molyneux, 2011, insbesondere die Diskussion über Entscheidungsfindung in der Bewegung, S. 72–76.

29 Cliff und Barker, Incomes policy, legislation and shop stewards (1966): www.marxists.org/archive/cliff/works/1966/incomespol/index.htm

30 Siehe die Diskussion dieser Episode in Molyneux, 1978, Kapitel 1.

31 Trotsky, 1959, S. 52.

32 Deutscher, 1984, S. 57–58.

33 Siehe Cliff, 1963.

34 Mehr über die Widersprüchlichkeit der Gilets-Jaunes-Bewegung findet sich bei: Bouharoun, 2019.

35 Einschließlich Irland, wo am 15. März 10.000 bis 15.000 Schulstreikende sich in Stephen’s Green versammelten und zum Parlament, dem Dáil, zogen.

36 Diese Zeilen habe ich am 24. April dieses Jahres geschrieben. Natürlich lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht vorhersagen, wie sich die Dinge in Sudan oder Algerien—oder der Region—zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels entwickelt haben.


Literatur

Bouharoun, Jad, 2019, “The French Quagmire”, International Socialism 162 (Frühjahr), http://isj.org.uk/the-french-quagmire/

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Cliff, Tony, Duncan Hallas, Chris Harman und Leon Trotsky, 1971, Party and Class (Pluto).

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Deutscher, Isaac, 1984, “The Ex-Communist’s Conscience”, in: Marxism, Wars and Revolutions: Essays from Four Decades (Verso).

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Trotzki, Leo, 1924, 1917: Die Lehren des Oktobers (1924),