Dieser Aufsatz erschien zuerst in: International Socialism 135, Sommer 2012, London http://isj.org.uk/the-rise-and-fall-of-the-jewish-labour-bund/. Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning und David Paenson.
Die Geschichte des jüdischen Bunds, mit vollem Namen Algemeyner Yidisher Arbeter Bund in Lite, Poyln un Rusland,1 ist voller Widersprüche. Er brachte während seines 52 Jahre währenden Bestehens Zehntausende jüdische Arbeiter im Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung zusammen. Er entstand unter der Russisch sprechenden jüdischen Intelligenz und war entscheidend für die Wiederbelebung von Poesie, Theater und Literatur in der Sprache der osteuropäischen Juden, dem Jiddischen. Er lehnte den Bolschewismus ab und gehörte zu den scharfen Kritikern Lenins. Gleichzeitig legte er aber den Grundstein für organisatorische Strukturen, die wir heute als „leninistisch“ bezeichnen würden. Der Bund bekannte sich zu Sozialismus und Revolution, schloss sich in den 1930er Jahren jedoch der reformistischen Zweiten Internationale an. Er verteidigte den Internationalismus und begriff seinen Kampf als einen der Werktätigen der Welt, organisierte aber ausschließlich jüdische Arbeiter und stellte spezifische jüdische Nationalforderungen in den Mittelpunkt seines Programms. Er lehnte den Zionismus als „bürgerlich-reaktionäre“ Ideologie ab, hat jedoch bis zum heutigen Tag einen Organisationsableger in Israel.
Mit diesem Artikel sollen einige dieser Widersprüche erhellt und es soll eine allzu oft vergessene Geschichte vergangener Kämpfe freigelegt werden, die zu unserer revolutionären Tradition gehört. Es geht um die Geschichte der Juden in Ost- und Mitteleuropa, die im Gegensatz zu der Erzählung des Zionismus Widerstand leisteten, kämpften und ihr Leben veränderten. Sie waren eben nicht das Zerrbild von Opfern der Geschichte, die sich nach der „Rückkehr aus dem Exil“ in das „gelobte Land Israel“ sehnen.
Ausbeutung und Unterdrückung
Ende des 19. Jahrhunderts lebte die Mehrheit der jüdischen Weltbevölkerung in Osteuropa. Das änderte sich erst mit dem von den Nazis verübten Völkermord. Sie lebten überwiegend in einem Gebiet, das als Ansiedlungsrayon bezeichnet wurde. Aufgrund zaristischer Anordnungen, wiederholter Pogrome, nach Kriegen und Zwangsauswanderung im 18. und 19. Jahrhundert waren rund 4 Millionen Juden in dieses Gebiet abgedrängt, das „sich von Litauen im Norden bis zum Schwarzen Meer im Süden und von Polen im Westen bis nach Weißrussland und zur Ukraine im Osten erstreckte“.2 In den 1880er und 1890er Jahren kam es zu Entwicklungen, die die jüdische Gemeinde vor allem im Ansiedlungsrayon dazu zwang, sich zu organisieren.
Am 1. März 1881 ermordete die kleine Terroristengruppe Narodnaja Wolja (Volkswille) Zar Alexander II. Dieser Zar war ohne Zweifel Vertreter einer langen Tradition gewaltsamer Herrschaft. Er hatte aber auch die antisemitischen Gesetze des russischen Reichs abgemildert, ließ jüdische Studenten an den Universitäten zu und erlaubte die Auswanderung von Juden aus dem Ansiedlungsrayon.3
Mit der Krönung des Thronfolgers Alexander III. endete die Reformzeit und die jüdische Bevölkerung wurde erneut Ziel zaristischer Verfügungen. Um die steigende Unzufriedenheit gegen seine Herrschaft umzulenken, entfesselte Alexander III. eine Sündenbockkampagne gegen die Juden des russischen Reichs: „In den Jahren 1881 bis 1883 wurden unter Alexander III. […] 224 Pogrome veranstaltet. Nach anderen Quellen waren es 215 Pogrome allein im Jahr 1881, von denen die meisten in der Ukraine stattfanden.“4 Gleichzeitig war den Juden landwirtschaftliche Arbeit verboten und 700.000 bis 800.000 Juden vom Land waren gezwungen, in die Städte des Ansiedlungsrayons abzuwandern. Juden durften keine Tätigkeiten in der zaristischen Verwaltung ausüben, und an den Universitäten wurde eine Zulassungsbeschränkung von maximal 10 Prozent für Juden eingeführt.5
Durch diese Politik wurden Juden in die sich ausdehnenden städtischen Ballungsräume des Rayons gepresst, wo sie Arbeit in den entstehenden Werkstätten suchten. Um sich vor den antisemitischen Angriffen zu verteidigen, waren die jüdischen Gemeinden jetzt auch zur Selbstorganisation gezwungen. Die Proletarisierung der jüdischen Massen nahm solche Ausmaße an, dass im Jahr 1897 „die Zahl jüdischer Arbeiter auf 105.000 geschätzt wurde, womit einer von drei wirtschaftlich aktiven Juden Arbeiter war“.6
Dieser rasante Prozess erzwungener Proletarisierung war der Ursprung der jüdischen Arbeiterbewegung. Hier liegt auch die Erklärung für die überdurchschnittliche Präsenz von Juden in den Organisationen und im theoretischen Leben der verschiedenen politischen Bewegungen des russischen Reichs – vom Anarchismus bis zum Marxismus in all seinen Schattierungen. Koppel Pinson sagt:
Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts beginnt die politische Agitation unter Arbeitern. Anlass war unter anderem das hohe Tempo der Industrialisierung, die jetzt überall in Russland einsetzte. Hinzu kam die verschärfte Unterdrückungspolitik der zaristischen Regierung gegen die Juden. Insbesondere in Litauen und Weißrussland setzten umfangreiche wirtschaftliche und politische Aktivitäten ein. Hier, in den beengten städtischen Zentren des Rayons, unter den jüdischen Arbeitern in den Farbfabriken, bei den jüdischen Bürstenmachern, in den Textil- und Tabakbetrieben von Wilna, Bialystok, Smargon, Grodno und Minsk ebenso wie unter jüdischen Mädchen, die in den Tabak- und Papierfabriken arbeiteten – hier lag die Geburtsstätte für eine Gruppe klassenbewusster sozialistischer Arbeiter und Intellektueller.7
Jüdische Aktivisten arbeiteten bei den frühen Narodnaja Wolja mit, den Narodniki (Volkstümlern). Sie waren linke Studenten- und Intellektuellengruppen, die terroristische Akte gegen die Beamten des zaristischen Regimes verübten und hofften, Zündfunke für eine allgemeine Bauernrevolte zu werden. Die Beteiligung von Juden an den Narodniki scheint jedoch nur von kurzer Dauer gewesen zu sein, weil die Narodniki nicht bereit waren, gegen den Antisemitismus in der Bauernschaft und in ihren eigenen Kreisen vorzugehen.8
Später, als die marxistische Bewegung in Russland zur Gründung von Studierzirkeln überging, in denen Arbeiter und Intellektuelle in sozialdemokratischen Lesekreisen im Untergrund zusammenkamen, waren wiederum viele jüdische Aktivisten dabei, insbesondere im Rayon. Zu der Zeit forderte die Mehrheit der jüdischen Intellektuellen, dass in den Lesekreisen ausschließlich Russisch gesprochen und Arbeitern, die nur Jiddisch kannten, die Sprache des Reichs beigebracht werden sollte. Russisch galt als überlegene Sprache und Jiddisch, meinten sie, zerstöre die Einheit unter den Arbeitern des Reichs.
Als die fortgeschrittensten Zirkel mit aktiver Propaganda in den Betrieben begannen und sich auf die Organisierung der Arbeiter im Arbeitskampf konzentrierten, standen ebenfalls jüdische Revolutionäre an der Spitze der Bewegung. Arkadi Kremer, der zu einem wichtigen Organisator des Bunds und führenden Mitglied des Zentralkomitees (ZK) wurde, verfasste im Jahr 1893 eine Schrift mit dem Titel „Über Agitation“, in der er die Auffassung vertrat, dass die Sozialdemokraten ihr Augenmerk vorrangig auf die Masse der Arbeiter richten sollten. Die Broschüre wurde mit einer Einleitung von Pawel Axelrod versehen, einem weiteren jüdischen Revolutionär, der später gemeinsam mit Lenin die Zeitung Iskra herausbrachte, ehe er führender Menschewik wurde.
Erst bei diesem Schwenk zur Agitation kam die Frage des Jiddischen auf. Anfangs war die Entscheidung der Vorgänger des Bunds, ihre Veröffentlichungen und ihr Agitationsmaterial auf Jiddisch herauszugeben, eher eine praktische Notwendigkeit als eine ideologische Aussage über die jüdische Nation gewesen.
Im Zuge ihrer Aktivitäten wurden erste Arbeitergruppen organisiert. Das geschah in verschiedenen Zentren Russlands, scheint aber in der jüdischen Arbeiterklasse des Ansiedlungsrayons besonders erfolgreich gewesen zu sein.9 Jüdische Arbeiter wurden häufig als Letzte angeheuert, weil sie sich zu schnell organisierten und als besonders streik- und aufstandsfreudig galten. Ein jüdischer Fabrikant aus der Provinz Vilnius erklärte: „Ich bevorzuge die Anstellung von Christen. Die Juden sind gute Arbeiter, aber sie scheuen nicht davor zurück, Aufstände gegen den Arbeitgeber, das Regime und selbst den Zaren anzuzetteln.“10
Das heißt nicht, dass nur jüdische Revolutionäre die Debatten über die Strategie der Bewegung anführten. Es deutet jedoch darauf hin, dass die doppelte Erfahrung mit scharfem Antisemitismus und sprunghafter Proletarisierung der jüdischen Massen jüdische Radikale besonders empfänglich machte für Argumente gegen Unterdrückung und für die Aufhebung von Ausbeutung. Diese Umstände müssen bei der Entstehung des Bunds berücksichtigt werden.
Jiddisch sprechende Revolutionäre
Die offizielle Gründungsversammlung des Bunds fand im Jahr 1897 auf dem Dachboden eines Bauernhofs bei Vilnius im heutigen Litauen statt. Sie wurde Anfang Oktober abgehalten, der Zeit, in die auch die jüdischen Feste Rosch ha-Schana und Jom Kippur fallen, um nicht den Verdacht der russischen Geheimpolizei auf sich zu ziehen, die die 13 sich an diesem Tag versammelnden Arbeiteraktivisten im Visier hatte. „Elf Männer und zwei Frauen, fünf Intellektuelle und acht Arbeiter trafen sich, die insgesamt 3.500 Mitglieder repräsentierten.“11 Sie waren 20 bis 35 Jahre alt, auch die Herausgeber der jiddischen Agitationszeitungen Die arbeyter shtime und Der yidisher arbeyter waren dabei. Die Gründung des Bunds war entsprechend ein Prozess, die schon bestehenden Komponenten der Arbeiterbewegung zusammenzuführen. Wladimir Medem, einer ihrer führenden Theoretiker, schrieb:
Der Bund! Gegründet? Das ist der falsche Ausdruck. Er wurde nicht gegründet, sondern geboren, er entwickelte sich, wuchs wie jeder lebende Organismus wächst und gedeiht. […] Eine Bewegung instinktiver Anziehungskraft des Arbeiters für den Arbeiter verdichtete Körner und Sand und machte aus menschlichem Staub einen Granitblock.12
Die anschwellenden Arbeitskämpfe zwangen jüdische Arbeiter, ihre Organisationsstrukturen zu stärken. Der professionelle Revolutionär, von den Mitgliedern einer Organisation bezahlt, um die Kämpfe, an denen sie teilnahmen, zu fördern und zu unterstützen; eine Agitationszeitung zur Verbreitung politischer Debatten und Nachrichten im Land, aber auch mit einer politische Linie und dem Anspruch, die Arbeiter bei ihrem Kampf anzuleiten; eine Arbeiterpartei, die die Agitations- und Bildungsarbeit von Revolutionären zusammenfasst – all das wurde zuerst vom Bund ersonnen und in die Praxis umgesetzt. Erst nachdem sie mit dem Bund in Kontakt gekommen waren, setzten sich Lenin und andere für die Verallgemeinerung dieser Organisationsform ein.
Der hohe Organisationsgrad des Bunds ebenso wie seine organische Entstehung aus den schon vorhandenen Organisationen der Arbeiterklasse erklärt, warum er bei der Bildung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) im Jahr 1898 eine so wichtige Rolle spielte. Auf dem Gründungskongress der SDAPR waren drei von neun Delegierten Bundisten, und einer von ihnen wurde in das dreiköpfige Zentralkomitee gewählt. Dieses Kräfteverhältnis zeigt auch, wie politisch entwickelt die jüdische Arbeiterbewegung im Rayon im Vergleich zu ihren Verbündeten im übrigen russischen Reich war.
Nur einen Monat nach der Gründungsversammlung des Bunds unternahm eine andere jüdische Gruppe ihre ersten organisatorischen Schritte, wenn auch in eine ganz andere Richtung. Die zionistische Bewegung, die vom Bund von Anfang an als „bürgerlich-reaktionär“ zurückgewiesen wurde, hielt ihren Kongress im August 1897 in der Schweiz ab. Die Zionisten glaubten, die Antwort auf Antisemitismus liege in der Auswanderung nach Palästina und der Schaffung eines jüdischen Staats mit Rückendeckung imperialistischer Mächte. Die Konferenz „war ein glanzvolles Ereignis: Über 200 Männer in Frack und weißer Halsbinde und über zwanzig elegant gekleidete weibliche Beobachter versammelten sich in Basels prunkvollem Stadtcasino; die Galerien waren mit distinguierten Besuchern gefüllt, Juden und Christen, und Korrespondenten aus ganz Europa berichteten ausführlich über ihren Verlauf.“13
Es ist kein Zufall der Geschichte, dass beide Konferenzen fast zur selben Zeit stattfanden. Sie hatten zwei wesentliche Gemeinsamkeiten, wenn sie auch sehr unterschiedliche Personenkreise mit grundverschiedener Politik zusammenbrachten: Sie waren beide eine Reaktion auf den ansteigenden Antisemitismus in Europa – von den osteuropäischen Pogromen bis zur französischen Dreyfusaffäre –, und beide sahen in der Selbstorganisation der Juden die einzige Möglichkeit, ihm zu begegnen.
Ihre Klassenzugehörigkeit unterschied sie jedoch voneinander. Für die jüdischen Arbeiter des Rayons war ihre Befreiung unmittelbar mit ihrem Kampf gegen Ausbeutung verknüpft. Sie wollten die Pogromisten und Unternehmer gleichzeitig bekämpfen. Die zionistische Bewegung war dagegen ein Bündnis assimilierter Juden der Mittelschicht, frustriert über die Schranken, die der Antisemitismus ihrem sozialen Aufstieg setzte. Für sie lag die Lösung in der Gründung eines eigenen Staats durch Kolonisierung eines anderen Lands.
Die nationale Frage
Der Bund wies die von Antisemiten und Zionisten gleichermaßen vertretene Behauptung zurück, dass es so etwas wie ein Weltjudentum mit einer gemeinsamen Kultur oder gleichem Schicksal gebe. Er wandte sich auch gegen das „Auswanderertum“, die von den Zionisten geförderte Idee von einem jüdischen Staat in Palästina. Der Bund erklärte, der jüdische Staat wäre nur eine weitere Klassengesellschaft, in der jüdische Arbeiter gegen ihre jüdischen Bosse kämpfen müssten. Die Bundisten verteidigten das Recht der Palästinenser, sich gegen die jüdische Kolonisierung zu wehren, und somit auch die Ausschreitungen im Jahr 1929, die von den Zionisten als antisemitisch und nicht als antikolonial motiviert dargestellt wurden.14
Aus Sicht des Bunds musste die Welt als Ganze verändert, die Klassengesellschaft überall gestürzt werden, und dieser Kampf hatte im eigenen Land zu beginnen. Er nannte diesen Ansatz doykayt („Hiersein“, doy = da, kayt = -keit). Der Bund vertrat jedoch in den zwei grundlegenden Fragen der Nationalität und der Organisation eine andere Meinung als die übrige revolutionäre Bewegung.
Die Entscheidung des Bunds zur Organisierung jüdischer Arbeiter ergab sich aus den materiellen Verhältnissen: dem Antisemitismus und der erzwungenen geografischen Trennung der jüdischen von den nichtjüdischen Arbeitern. Der Bund selbst war sich dessen bewusst. In seinem Bericht an den Internationalen Sozialistischen Kongress von 1900 erklärte er:
Die ersten jüdischen Intellektuellen, die die Propaganda unter den jüdischen Arbeitern aufnahmen, hatten nicht die Vorstellung, eine eigene jüdische Arbeiterbewegung zu schaffen. Beschränkt auf den Ansiedlungsrayon und ohne die Möglichkeit, ihre Energien auf die russische Arbeiterbewegung zu richten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als unter Juden zu arbeiten und auf diese Weise zumindest bis zu einem gewissen Grad ihren Durst auf revolutionäre Aktivitäten zu löschen.15
Die Trennung gestaltete sich auch nicht überall gleich, zum Beispiel
gab es Industriezentren wie Bialystok und Lodz, wo eine große Zahl jüdischer und nichtjüdischer Arbeiter in unmittelbarer Nachbarschaft hausten. In solchen Fällen waren die Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Arbeitern häufig der Schlüssel zum Erfolg oder zum Scheitern eines Streiks.16
Dennoch ging der Bund von Anfang an davon aus, dass der Kampf gegen den Antisemitismus von der jüdischen Arbeiterklasse geführt werden musste, nicht von der Arbeiterklasse als Ganze. Deshalb mussten sich die jüdischen Arbeiter selbst organisieren, in einer separaten jüdischen Arbeiterorganisation. Kremer erklärte zum Beispiel auf dem Gründungskongress des Bunds, er werde „auch die besondere Aufgabe haben, die spezifischen Interessen der jüdischen Arbeiter zu verteidigen, ihren Kampf für Bürgerrechte zu führen und vor allem gegen die diskriminierenden antijüdischen Gesetze vorzugehen“.17
Für den Bund galten die russischen Juden als Nationalität in dem Sinne, als die Jiddisch sprechenden Juden des Reichs eine Nation bildeten und er der Meinung war, dass die Revolution allen unterdrückten Nationalitäten Autonomie bringen würde.
Auf seinem vierten Kongress im April 1901 in Bialystok wurde eine Resolution verabschiedet, in der es hieß, dass „Russland, bewohnt von vielen verschiedenen Nationen, zukünftig in einen nationalen Bundesstaat umgewandelt werden muss, in dessen Rahmen jede Nation, unabhängig von ihrer territorialen Verteilung, vollständige Autonomie besitzen soll“.18
Das war die Position der österreichischen Marxisten (Austromarxisten genannt), die eine ähnliche föderalistische Lösung für die „nationale Frage“ im Österreich-Ungarischen Reich forderten. Rick Kuhn stellt fest:
Mit der nationalkulturellen Autonomie konnte die deutsch-österreichische Führung [der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs – SDAPÖ] die Sozialdemokratie mit dem deutsch-dominierten österreichischen imperialen Staat versöhnen und so mit der Tatsache, dass sie ein Auseinanderbrechen des Reichs ablehnte. Die föderalen Strukturen der SDAPÖ stellten eine Kapitulation vor dem Nationalismus in der Arbeiterbewegung dar.19
Der Bund hoffte, im Zuge einer Revolution werde es möglich sein, Gesetze gegen Antisemitismus zu erlassen und einen Grad kultureller Freiheit und Schutz der Juden durch Schaffung autonomer kultureller Einheiten im ganzen Reich zu erlangen. Er bestritt die Vorstellung, wonach die „jüdische Frage“ von nichtjüdischen Organisationen gelöst oder auch nur angegangen werden könnte.20
Die Bolschewiki dagegen traten dafür ein, „die jüdische Arbeiterbewegung in die allgemeine Arbeiterbewegung einzugliedern und den Kampf für Gleichberechtigung der Juden – und die bedingungslose Feindschaft gegen jede Form von Antisemitismus – zu einem festen Bestandteil des revolutionären Programms zu machen“.21 Sie lehnten die Vorstellung ab, dass Arbeiter die Welt verändern könnten, ohne zugleich gegen Unterdrückung zu kämpfen – egal welcher Religion sie anhingen.
Das Verhältnis zwischen dem Bund und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands war in dieser Frage äußert angespannt. Auf der Konferenz der SDAPR im Jahr 1903 in Brüssel forderte der Bund „die Anerkennung als einziger Repräsentant des jüdischen Proletariats ohne territoriale Beschränkung für seine Aktivitäten“,22 mit anderen Worten sollten alle jüdischen Mitglieder der SDAPR automatisch auch Mitglieder des Bunds werden. Die sogenannte jüdische Frage und ihre organisatorischen Folgen flossen in die allgemeinen Debatten über die Organisationsstrukturen der SDAPR ein. Die Spaltung mit dem Bund kann nur im Licht dieser Debatte verstanden werden.
Lenin wird oft beschuldigt, die Spaltung der SDAPR betrieben zu haben. Die Wahrheit ist jedoch vielschichtiger. Lenin war nicht bereit, den Bund als einzigen Vertreter aller jüdischen Arbeiter anzuerkennen, aber er wollte ihn auch nicht aus der SDAPR ausschließen.23 Im Verlauf des Kongresses taten sich in der ursprünglich geeinten Redaktion der Zeitung Iskra unerwartete Meinungsverschiedenheiten zur Organisationsfrage auf. Über diese Frage kam es schließlich zum Bruch.
In den Debatten formulierten und klärten Martow und Lenin ihr jeweiliges Parteiverständnis. Für Lenin sollte sie eine Avantgardepartei werden, für Martow eine offene Massenpartei. Lars Lih wies darauf hin, dass Lenins Vorstellung von einer Partei zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgereift war und die Diskussion sich deshalb überwiegend um taktische Fragen drehte.24 Er beschrieb die Konferenz als „gespannt und verworren, persönliche Abneigungen mischten sich mit organisatorischem Gerangel um Parteiämter und echten Differenzen über die revolutionäre Taktik“.25 Aus diesen unterschiedlichen Haltungen entwickelten sich im Laufe der Zeit getrennte, miteinander nicht zu vereinbarende Organisationsstrukturen und politische Positionen.
Was auch immer die Gründe waren, die Konferenz endete in allgemeinem Streit. Unter diesen Umständen war es nicht möglich, den Forderungen des Bunds entgegenzukommen, und der Bund verließ die SDAPR.26 Die SDAPR spaltete sich weiter in eine Mehrheit und eine Minderheit – auf Russisch: Bolschewiki und Menschewiki.
Die Generalprobe
Im Jahr 1905 stand Russland unmittelbar vor einer Niederlage im Krieg gegen Japan. Die Not unter den Soldaten und den Armen wurde zum Zündfunken des Aufstands und dann einer Revolution. Die Unruhen begannen im Jahr 1904 mit einem Streik in den Putilowwerken von St. Petersburg. Schon bald folgten Solidaritätsstreiks, an denen bis zu 80.000 Arbeiter teilnahmen. Im Jahr 1905 führte der orthodoxe Priester und Polizeispitzel Gapon einen Aufzug zum Winterpalast des Zaren an. Die Demonstranten waren friedlich, sangen religiöse Hymnen zu Ehren des Zaren und wollten ihm eine Petition überreichen. Die Armee eröffnete das Feuer auf sie und löste wütende Massenproteste aus. Am Schwarzen Meer revoltierten die Matrosen des heute berühmten Schlachtschiffs „Potemkin“ gegen ihre Offiziere, töteten sieben und setzten elf weitere fest. Der Aufstand verbreitete sich sofort über das Zarenreich, und in fast allen kleineren und größeren Städten kam es zu Demonstrationen und Streiks.
Der Ansiedlungsrayon wurde von einer revolutionären Welle erfasst. Arbeiter aller Nationalitäten und Religionen im Rayon (überwiegend Russen, Polen, Litauer, Ukrainer, Deutsche und Juden) erhoben sich gegen den Zaren und gegen ihre Unterdrückung und forderten höhere Löhne. Der Bund „kämpfte mit großer Entschlossenheit, spielte eine entscheidende Rolle in den meisten Ereignissen der Revolution und hatte die meisten Opfer bei den Zusammenstößen mit der russischen Armee und der Polizei zu beklagen“.27 Der Bund warf seinen gesamten Apparat in die Organisation der Revolution. Seine Presse feierte die Streiks und Demonstrationen und argumentierte für mehr Aktionen gegen den Zaren. In den Werkstätten des gesamten Rayons agitierten seine Mitglieder und bauten (im zaristischen Russland illegale) jüdische Gewerkschaften auf. Zur selben Zeit machte der Bund auch gegen jene mobil, die die Revolution durch Spaltung der Bewegung mit antisemitischer Propaganda und Pogromen zum Entgleisen bringen wollten. Er stellte jüdische Kampfgruppen zur Selbstverteidigung auf.
Wie effektiv die Aktionen des Bunds waren, lässt sich nicht genau sagen. Sicher ist, dass er sich mit Leib und Seele in die Revolution warf und dafür allgemeine Anerkennung erwarb. Von Januar 1905 bis Oktober 1906 schwoll die Organisation auf etwa 33.000 bis 40.000 Mitglieder an. In Lodz zum Beispiel, einem Industriezentrum des Rayons, wo 29,4 Prozent der Bevölkerung jüdisch war, schnellte die Mitgliedschaft von 100 auf 1.600 Mitglieder hoch. Der Bund organisierte Studentengruppen an Gymnasien und Universitäten und gründete neun Gewerkschaften, die über 3.500 Arbeiter organisierten. Die Kampfgruppen des Bunds konnten in den Jahren 1905 und 1906 insgesamt dreimal die Pogromisten zersprengen.28
Aber die Revolution wurde geschlagen. Sie ging mit Lenins Worten als „Generalprobe“ für die Revolution von 1917 in die Geschichte ein. Das Regime überlebte – vor dem Hintergrund eines allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs – mithilfe scharfer staatlicher Unterdrückung gekoppelt mit Scheinreformen wie der Einrichtung eines Parlaments, der Duma. Hatte der Bund gut auf den Ausbruch der Revolution reagiert, verschwand er danach fast ganz in der politischen Versenkung. Ende des Jahres 1907 war der Bund regelrecht dezimiert.29 In Lodz fiel seine Mitgliedschaft im Jahr 1908 ungefähr auf den Stand von vor der Revolution, und im Jahr 1910 hatte er nur noch zwei Gewerkschaften mit 144 Mitgliedern.30
Als Folge des Verlusts der Mehrheit seiner Mitglieder und der Niedergeschlagenheit der Arbeiterklasse ging der Bund von der Organisierung illegaler Gewerkschaften und der Agitation in den Werkstätten über zur Schaffung eines Netzes von Kultureinrichtungen (vor allem jiddischer Schulen) und zur Beteiligung an lokalen jüdischen Wahlen.31
Selbstverständlich war es nach der Niederlage der Revolution notwendig, die Möglichkeiten zur Agitation zu überdenken. Der Schwenk des Bunds führte ihn jedoch in eine völlig andere politische Richtung. Als er sich nach dem fast vollständigen Zusammenbruch im Jahr 1911 wieder zu erholen begann, wurde er zu einem engen Verbündeten der Menschewiki und stand jetzt auf dem rechten Flügel der russischen revolutionären Bewegung.
Diese Neigung des Bunds, von Flut und Ebbe des Klassenkampfs hin und her geworfen zu werden, statt für eine klare Strategie zu kämpfen und diese den Umständen anzupassen, begleitete ihn während seines ganzen Bestehens. Teilweise war das seiner arbeitertümelnden Tendenz geschuldet, die sich nach dem Übergang zur Agitation in der Organisation breitgemacht hatte, weshalb er das Verhalten der Arbeiterklasse zwar erklärte, aber nicht sie zu führen versuchte. Ein weiterer Grund war aber auch seine Konzentration auf bestimmte isolierte Flügel der Arbeiterklasse (eine freiwillige wie unfreiwillige Isolation), die es ihm schwer machte, die Arbeiterbewegung im Ganzen einzuschätzen.
Faktisch traten alle revolutionären Strömungen des russischen Reichs in eine Zeit der Krise und Isolation ein. Auch die Bolschewiki entgingen dem nicht, aber ihr „organisierter Rückzug“, wie Lenin es nannte, ermöglichte es ihnen, einen aktiven und disziplinierten Kern zu behalten, während sie versuchten, dem Sturm der Unterdrückung und der Krise standzuhalten. Der Ansatz der Bolschewiki beruhte auf zwei Säulen: Erstens verstanden sie, dass sie ihre Taktiken der neuen Zeit anpassen mussten, zweitens schlossen sie die ultralinken Mitglieder aus, die sich weigerten, diese Anpassung mitzuvollziehen. Lenin erklärte, die Bolschewiki hätten nur deshalb politisch überlebt, weil „sie die Revolutionäre der Phrase schonungslos entlarvten und davonjagten, die nicht begreifen wollten, dass man den Rückzug antreten und es verstehen muss, den Rückzug durchzuführen, dass man unbedingt lernen muss, selbst in den reaktionärsten Parlamenten, in den reaktionärsten Gewerkschaften, Genossenschaften, Versicherungskassen und ähnlichen Organisationen legal zu arbeiten“.32
Zwei Bunde
Als der Erste Weltkrieg ausbrach und das deutsche Heer in Polen einmarschierte, wurde der Ansiedlungsrayon aufgeteilt, was den Bund im russischen und polnischen Teil vor unterschiedliche Herausforderungen stellte.
Mit dem Fortgang des Kriegs zeigte sich, dass Polen nicht so schnell wieder unter russische Herrschaft kommen würde, somit war es auch nicht mehr möglich, als vereinter Bund zu arbeiten. Das ZK des Bunds setzte im Jahr 1914 in Warschau ein neues Komitee ein, das faktisch sofort zur Führung des polnischen Bunds wurde.33 Die Spaltung wurde im Dezember 1917 offiziell vollzogen.
Die zweite und vielleicht noch überraschendere Folge des deutschen Einmarschs bestand darin, dass das politische Feld im von Deutschland besetzten Polen für die Juden sehr viel offener wurde. Die antisemitischen Gesetze und Institutionen des Zarenreichs wichen den deutschen Regelungen, „jüdische Bildungs-, Kultur-, Politik-, Sozial- und Wirtschaftseinrichtungen konnten aufblühen“.34 Entsprechend genoss der polnische Bund größere politische Freiheiten. Medem erhielt zum Beispiel die Genehmigung der deutschen Besatzer, eine Zeitung für den polnischen Bund herauszubringen, die Lebensfragn.35
Der polnische Bund intensivierte jetzt noch jene Arbeit, die seit der Niederlage der Revolution für ihn im Mittelpunkt gestanden hatte und das Rückgrat seiner Organisation in Polen darstellte: den Ausbau des jiddischen Bildungswesens. Nathan Cohen erklärt:
Die Veränderungen in der Regierung und die riesige Zahl der Flüchtlinge verschafften den Organisationen und Institutionen, die bereit waren, Hilfe zu leisten, größeren Handlungsspielraum, und so eröffneten zwei Lehrer für frühkindliche Bildung unter dem Vorwand ehrenamtlicher Tätigkeit das erste jüdische Kinderheim, benannt nach Bronislaw Grosser.36
Das Bildungsnetz des Bunds in Polen konnte sich weiter ausdehnen und wird heute als größte Errungenschaft des polnischen Bunds betrachtet. Festgehalten werden sollte jedoch, dass die Liberalisierung unter deutscher Herrschaft Teil der damaligen deutschen Kriegspropaganda war. Die Deutschen behaupteten, sie marschierten nach Polen ein, um seine jüdische Bevölkerung zu retten. Aus diesem Grund richtete sich die Hoffnung der Zionisten bei ihrer Suche nach einem imperialen Förderer der Kolonisierung Palästinas vor allem auf die deutsche Regierung (neben Frankreich und Großbritannien).
Der russische Bund kämpfte weiterhin als Teil der russischen Arbeiterbewegung gegen den Antisemitismus des Zarenreichs und gegen Ausbeutung, während der polnische Bund jetzt in einem getrennten polnischen Gebiet sich neuen Umständen anpassen musste. Die politische Öffnung nutzte er jedoch nicht zur Agitation, sondern um ein Netz jüdischer Kultur-, Bildungs- und Sporteinrichtungen zu schaffen.
Diese gespaltenen Strukturen prägten schließlich die unterschiedliche Reaktion des Bunds auf den Ausbruch der russischen Revolution im Jahr 1917.
Der Sog der Revolution
Der Krieg in Russland mündete in eine zweite, diesmal erfolgreiche Revolution. Im Rahmen dieses Aufsatzes ist es nicht möglich, der russischen Revolution gerecht zu werden, deshalb verweise ich vor allem auf die Auswirkungen auf die jüdischen Arbeiter überall im russischen Reich. Als die Zarenherrschaft hinweggefegt wurde und zum ersten Mal Arbeitermacht auf der Tagesordnung stand, begann die Revolution auch, „sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen“, wie Marx und Engels schrieben.37 All die verschiedenen Formen der Unterdrückung wurden durch die Erfahrung des Kampfs und durch das bewusste Eingreifen der Bolschewiki infrage gestellt.
Die Anziehungskraft der russischen Revolution auf die jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter entsprach der allgemeinen Anziehungskraft, die sie überall in Russland auf die Arbeiterschaft ausübte. Hunderttausende schlossen sich der Sache der Kommunisten an, als Arbeiterräte entstanden, die Leitung der Betriebe und Gemeinden in der Hand von Arbeitern lag und eine bessere Zukunft ohne Ausbeutung und Unterdrückung nahe schien. Für die jüdischen Gemeinden des russischen Reichs kamen aber noch zwei weitere wichtige Faktoren hinzu: Der erste war die sofortige Aufhebung der antisemitischen Gesetzgebung des Zarenreichs durch die Sowjetregierung:
Die Revolution verkündete die Abschaffung jeder nationalen Diskriminierung; die sowjetische Regierung nahm den Kampf gegen Antisemitismus auf; mit der Abschaffung der Wohnortbindung konnten Juden sich frei im ganzen Land bewegen; die Verkündung der Gleichheit aller Bürger eröffnete [den Juden] den Zugang zu der neuen Staatsverwaltung.38
Die Oktoberrevolution kündete von der Möglichkeit, das Gleichheitsversprechen der französischen Revolution zu verwirklichen, und bewies in der Praxis, dass Antisemitismus nicht unvermeidlich war und jüdische und nichtjüdische Arbeiter gemeinsame Bedürfnisse und Ziele hatten. Der Bund als Organisation wurde durch diese universalistische Tendenz geschwächt, da seine Basis vom Sog der Revolution mitgerissen wurde.
Die zweite Anziehungskraft der Bolschewiki zeigte sich im Bürgerkrieg. Die weißen Armeen, organisiert von den alten Herrschern des Reichs und finanziell wie militärisch unterstützt von europäischen und amerikanischen Mächten, versuchten die Revolution zu ersticken. Eins ihrer Mittel bestand darin, an die alten reaktionären Ideen der russischen Bauernschaft zu appellieren und Pogrome im ganzen Land zu organisieren.39 Die Bolschewiki setzten die antisemitischen Pogrome mit konterrevolutionären Aktivitäten gleich und unterwarfen die Pogromisten dem Kriegsrecht. Diese Haltung brachte den Bolschewiki großen Respekt bei den jüdischen Massen des Reichs ein: „Unzählige Juden schlossen sich während oder zum Ende des Bürgerkriegs der Kommunistischen Partei an, füllten die Reihen ihrer neuen Staatsverwaltung oder meldeten sich bei der roten Armee.“40
Der Schutz, den die Bolschewiki den jüdischen Gemeinden im Bürgerkrieg angedeihen ließen, erklärt auch die Spaltungen in allen jüdischen Organisationen des Reichs. Und die Bolschewiki konnten ihrerseits ihre Haltung in der Frage der Befreiung als fester Bestandteil einer erfolgreichen Revolution weiter festigen. Nicht nur traten viele jüdische Arbeiter den Bolschewiki bei, sie waren auch in die Parteistrukturen und die Führung eingebunden. Am Ende des Bürgerkriegs, „auf dem zehnten Kongress der Bolschewistischen Partei im März 1921, waren 94 von 694 Delegierten Juden […]. Im Zentralkomitee der bolschewistischen Partei, das im März 1918 gewählt wurde, waren fünf von 15 Mitgliedern Juden.“41
Unmittelbar nach der Revolution entwickelte sich zusätzlich zu dem Kampf gegen Antisemitismus, der auf allen Ebenen des neuen Staats geführt wurde, eine neue, kulturell-soziale Front. Auf der Staatsebene ließ sich das an der Schaffung der Jeswetika ablesen, eines Zentrums zur Förderung jüdisch-revolutionärer Kultur.
Im Mittelpunkt dieser revolutionären Erneuerung stand das Jiddische, es finden sich aber auch russische Texte und Einflüsse in den Veröffentlichungen.42 In den Myriaden lokaler Sektionen, die überall im Sowjetgebiet entstanden, wurde der jiddischen Kultur neues Leben eingehaucht – im Theater, der Literatur und der Poesie –, und neue Bildungsstätten wurden eingerichtet.43 Alain Brossat und Sylvia Klingberg, die ansonsten den Bolschewiki vorwerfen, „die jüdischen politischen Besonderheiten herunterzuspielen“, kommen nicht umhin, das Wiederaufleben der jüdischen Kultur Anfang der 1920er Jahre lobend zu erwähnen:
Dennoch lässt sich die Realität der kulturellen jüdischen Wiedergeburt in der UdSSR in den 1920er Jahren kaum leugnen, eine Wiedergeburt, die sich in der bemerkenswerten Entwicklung des jüdischen Theaters jener Zeit zeigte, in der intensiven und vielfältigen jiddischen Literaturproduktion, in der Errichtung jüdischer Schulen und so weiter. Kennzeichnend für diesen kulturellen Aufschwung, diese Mutation ist, dass er eine unmittelbare Folge realer politischer Faktoren war.44
Die sichtbaren Zeichen politischer Befreiung und kultureller Erneuerung des jüdischen Lebens Anfang der 1920er Jahre sind Symptome einer Revolution, in der die Befreiung unterdrückter Minderheiten Wirklichkeit wurde.
Nachdem der Krieg den Bund in zwei nationale Einheiten gespalten hatte, wurde der russische Bund von der Revolution regelrecht mitgerissen, während sein polnisches Gegenstück nur schwache Ausläufer der Revolution zu spüren bekam. Zwar erfasste der revolutionäre Wind, der in Russland entfacht wurde, den ganzen Globus, aber nicht immer so unmittelbar.
Russland
Wie im Jahr 1905 warf sich der Bund mit voller Kraft in die neue Revolution. Das zeigte sich unter anderem darin, dass mit Henryk Ehrlich ein führendes Mitglied des Bunds in das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets, des vermutlich mächtigsten Organs der Revolution, gewählt wurde. Mit dem Übergang der Revolution von einer politischen zu einer sozialen Revolution im Oktober 1917 spaltete sich der Bund jedoch.
Die Führung des Bunds verurteilte das Vorantreiben der Revolution als einen „bolschewistischen Putsch“.45 Die Mehrheit der russischen Bundmitglieder identifizierte sich dagegen mit den Bolschewiki und begriff, dass sie die einzige Organisation waren, die die Revolution weiterführten. Die Mehrheit des russischen Bunds stimmte den von den Bolschewiki im Jahr 1918 entworfenen 21 Leitsätzen für die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Internationale (Komintern) zu.46 Der russische Bund trat darauf der Kommunistischen Partei bei, zuerst in der Ukraine im Jahr 1919. Danach vereinten sich die Ortsgruppen der Kommunistischen Partei und des Bunds überall im ehemaligen russischen Reich.47 Im Jahr 1921, nach erhitzten Debatten mit den Bolschewiki und in der Organisation selbst, löste sich der russische Bund schließlich ganz auf.48
Der Bund war nicht die einzige jüdische Organisation, die angesichts der Revolution zerrissen war. Auch von der Partei Poale Zion (Arbeiter Zions), einer „marxistisch-zionistischen“ Organisation, spalteten sich Gruppen ab, die der Komintern beitraten.49
Viele Kritiker der Bolschewiki und Historiker über den Bund (und natürlich die Führung des damaligen russischen wie polnischen Bunds) beschreiben die Auflösung des russischen Bunds als Verlust für die jüdische Bewegung und als Folge der bolschewistischen Tyrannei. Was sie nicht wahrnehmen, ist die demokratische Weise, in der sich der Bund auflöste. Die Revolution öffnete die Tür zu einer Million neuer Möglichkeiten, zu einer neuen Gesellschaft, die von und für die Vielen aufgebaut wurde. Trotz seiner Theorie, dass allein der jüdische Arbeiter den Kampf gegen Antisemitismus aufnehmen konnte, wurde der Bund in ein revolutionäres Gefecht geworfen, in dem jüdische und nichtjüdische Arbeiter gemeinsam gegen Unterdrückung und Ausbeutung kämpften. Die Bolschewiki gingen gegen Antisemitismus mit derselben Entschlossenheit vor wie die härtesten Kader des Bunds. Die Vorstellung, nur Juden könnten und wollten den Antisemitismus schlagen, wich der gemeinsamen Aktion mit nichtjüdischen Arbeitern. Im Kampf gegen Ausbeutung und das System als Ganzes erschien der Antisemitismus nicht mehr nur als Problem der Juden, die Opfer aller Nichtjuden waren, sondern als Bestandteil ausbeuterischer Strukturen und daher als ein Problem für alle Arbeiter.
Polen
In Polen waren die Erfahrungen mit der Revolution weniger unmittelbar und die Folgen widersprüchlicher. Hinzu kam, dass die alte Führung des Bunds, die bis dahin in Russland gelebt hatte, nach Polen auswanderte, als sich der Bund mit den Bolschewiki zusammenschloss. Ehrlich und Victor Alter zum Beispiel, ein führender Bundist aus Moskau und der Ukraine, verließen Russland und übernahmen führende Funktionen im Polnischen Bund. Sie gehörten zu den schärferen Gegnern der Bolschewiki im Bund und hatten großen Einfluss auf die Organisation.
Im Jahr 1921, auf der zweiten Konferenz des polnischen – und einzig übriggebliebenen – Bunds in Danzig wurden die schweren Differenzen über die 21 Mitgliedsbedingungen der Komintern ausgetragen. Die Organisation war in drei Lager gespalten: jene, die 16 der 21 Leitsätze mittragen wollten, jene, die 19 mittrugen und jene, die alle akzeptierten. Zwei Punkte waren für die große Mehrheit am wenigsten annehmbar: „[…] die Forderung nach rückhaltloser Unterstützung der Komintern durch jede neu beigetretene Gruppierung und die Forderung nach dem Bruch mit allen Mitgliedern, die nicht voll und ganz hinter der Dritten Internationale standen“.50 Das mag nach eher geringen Meinungsverschiedenheiten klingen, der Sinn der 21 Mitgliedsbedingungen lag jedoch darin, Einheit über nationale Grenzen hinweg zu schaffen und all jene revolutionären Kräfte zu bündeln, die die Erfahrung mit der Revolution verallgemeinern wollten. Die Bolschewiki wollten vermeiden, mit Parteien verbündet zu sein, die sich gegen eine Vertiefung der Revolution wenden würden, so wie viele russische „Revolutionäre“ es getan hatten.
Die prokommunistische Minderheit des Bunds spaltete sich nach der Konferenz ab. Zunächst nannte sie sich Kommunistischer Bund (Kombund) und verschmolz dann im Jahr 1922 mit der Kommunistischen Partei Polens (KPP).51 Auch wenn es sich insgesamt nur um eine Minderheitsabspaltung handelte, war sie in einigen Gebieten doch von Gewicht: In Lodz verlor der Bund die Hälfte seiner Mitglieder an den Kombund.52 Die beiden anderen Fraktionen blieben im Bund, aber dieser blieb intern mindestens ein Jahrzehnt lang zerstritten.
Der befreiende Wind der Revolution war durch Entfernung und mangelnde direkte Erfahrung abgeschwächt. Die polnischen Bundisten waren unfähig, den jüdischen Partikularismus aufzugeben und blieben eine von den Kommunisten getrennte Organisation.
Von Niederlage zu Reform und zurück
Die 1920er Jahre in Polen waren für den Bund hart. Beschränkt auf den neuen polnischen Staat, von internen Streitereien zerrissen und gefangen zwischen revolutionären Idealen und reformistischer Organisation, war der Bund isoliert.
Der Bund baute ein stets wachsendes Netz an Kulturorganisationen auf und wandte sich vom direkten Kampf ab. Er gründete Sportvereine, Theaterkompanien und Akademien, eine Jugendorganisation, eine Kinderorganisation und – was vielleicht am wichtigsten war – er baute ein flächendeckendes Netz für jiddische Arbeiterbildung auf.
Das zweite Standbein seiner organisatorischen Arbeit waren die Wahlen. Der Bund engagierte sich in den1920er Jahren in lokalen jüdischen Wahlen und den Wahlen von Arbeiterabgeordneten für das polnische Parlament. Die Erfolge waren äußerst bescheiden oder blieben ganz aus.
In dieser Zeit nahm der Bund offiziell keine reformistische Haltung ein. Nachdem er die Mitgliedschaft in der Komintern abgelehnt hatte, schloss er sich der in Wien gegründeten Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien an – der „Zweieinhalbten Internationale“. Dabei handelte es sich um einen internationalen Zusammenschluss zentristischer Organisationen, die gefangen waren zwischen revolutionären Überzeugungen und einem Mangel an Vertrauen in die Fähigkeit der Arbeiterklasse, sich selbst zu befreien. Lenin war sich im Klaren darüber, dass diese Gruppierungen Richtung Revolution oder Reform gezogen werden konnten, je nach Stärke der internationalen revolutionären Bewegung. Am Ende landete der Bund ebenso wie viele andere zentristische Organisationen in den Armen der wiedergegründeten Zweiten Internationale, allerdings nicht ohne heftige interne Auseinandersetzungen.
Dieser allgemeine Niedergang fand parallel zu den Rückschlägen für die Revolution Anfang der 1920er Jahre und zum Aufstieg des Stalinismus in der Sowjetunion statt. Die Chance auf Veränderung der Welt durch Massenaktionen der Arbeiterklasse schien in immer weitere Ferne zu rücken.
Zwischen Stalin und Hitler: Kampf!
In den 1930er Jahren zwang die dramatische Veränderung der politischen Lage in Polen und auf internationaler Bühne den Bund wieder zum Handeln, diesmal aus der Defensive heraus.
In der Sowjetunion befestigte Stalin seine Macht durch Zwangskollektivierung, Fünfjahrespläne und erste Säuberungen der alten Bolschewikengarde. Diejenigen, die die Revolution angeführt hatten und ihre Tradition weitertrugen, wurden ins Exil geschickt oder ermordet. Und mit den neu inszenierten Pogromen und antijüdischen Aufmärschen nach Hitlers Machtergreifung verschärfte sich von Westen her das antisemitische Klima. In Polen selbst wurde das politische Spektrum nach dem Tod des „gütigen Diktators“ Pilsudski im Jahr 1935 deutlich nach rechts gezogen und die Entstehung eines polnischen Faschismus schien bevorzustehen.53
Der Bund begann erneut mobil zu machen. Er organisierte wieder – ausgehend von seinem Sportverband „Morgenstern“ – Kampfgruppen und rief zu Generalstreiks auf. Die sozialistische PPS ebenso wie die Zionisten unterstützen die Aufrufe.
Die PPS und der Bund organisierten gemeinsam Kampagnen gegen Angriffe auf jüdische Studenten an Universitäten, marschierten zusammen auf 1.-Mai-Demonstrationen, gründeten Selbstverteidigungsgruppen in Warschau, gaben eine gemeinsame Zeitung heraus und hielten zusammen Gewerkschaftskonferenzen ab.54 Zum zweiten Mal in seiner Geschichte war der Bund durch gesellschaftliche Ereignisse gezwungen, seinen jüdischen Partikularismus aufzugeben.
Seine Mitgliedschaft verdoppelte sich und wuchs weiter bis zum Zweiten Weltkrieg, womit er die größte jüBdische Organisation in Polen blieb. Im Jahr 1939 gab er eine Zahl von 20.000 Mitgliedern an.55 Jetzt verzeichnete er auch Wahlerfolge: Er gewann die Mehrheit in „einigen der größten jüdischen Gemeindeorganisationen und in etlichen Stadträten, einschließlich Warschau“.56
Ironischerweise verbesserten sich die Wahlergebnisse des Bunds also erst, als er den Schwenk zu einer kämpferischen Gewerkschaftspolitik und zum Antifaschismus vollzog. Jüdische Arbeiter in Polen gewannen dadurch das Selbstbewusstsein, sich zu organisieren und zu kämpfen, während die Welt um sie herum zusammenbrach. Das ist die politische Botschaft, die er selbst in der dunkelsten Nacht der Nazibesetzung lebendig erhielt.
Niederlage und Auslöschung
Die Wiederaufnahme der Aktivitäten durch Bund und PPS wurde schließlich durch stärkere Kräfte zunichte gemacht. Im Jahr 1939, nach dem Hitler-Stalin-Pakt, marschierten Rote Armee und Wehrmacht in Polen ein. In beiden Hälften des besetzten Polens wurde die Führung der politischen Organisationen verhaftet, auch die des Bunds. Auf russischer Seite wurden Victor Alter und Henryk Ehrlich verhaftet. Ihnen wurde vorgeworfen, „britische Agenten zu sein, dann wurden sie freigelassen und wieder verhaftet, diesmal als deutsche Spione. Ehrlich wurde im Jahr 1942 hingerichtet. Alter beging Selbstmord.“57
Die Verbrechen der deutschen Seite sind besser bekannt: Die Juden wurden in Ghettos zusammengepfercht, wo sie ausgehungert und dann in Konzentrationslagern umgebracht wurden. Weniger bekannt ist die Geschichte ihres Widerstands. Der Bund organisierte in fast allen Ghettos Polens eine Untergrundpresse, Bildungseinrichtungen und Theatergruppen. Er arbeitete mit der PPS und dem polnischen Untergrund bei terroristischen Anschlägen auf die Besatzungsmacht zusammen. Vielleicht am beeindruckendsten waren die Aufstände in mehreren Ghettos, die er zusammen mit anderen organisierte, von denen der Warschauer Aufstand am bekanntesten ist.
Nachdem 300.000 Warschauer Juden in die Todeslager deportiert worden waren, taten sich die verbliebenen zionistischen Gruppen, Kommunisten und Bundisten zusammen und gründeten den Jüdischen Kampfbund. Mit den wenigen Waffen, die sie von der selbst kaum bewaffneten und eher distanzierten polnischen Widerstandsbewegung bekommen konnten, leiteten sie im Jahr 1943 den Aufstand ein, als die Deutschen das Ghetto endgültig zu räumen versuchten. Sie leisteten einen Monat lang Widerstand gegen eine gut ernährte, ausgebildete und schwer bewaffnete Armee. Der Aufstand wurde schließlich niedergeschlagen, das Ghetto vollständig zerstört.58
Der Ghettoaufstand war der letzte Hoffnungsfunke gewesen, er war eine Flamme des Widerstands in der langen Nacht der Auslöschung fast der gesamten jüdischen Bevölkerung des Ansiedlungsrayons und damit auch des Bunds und jener Arbeiter, die für eine bessere Welt gekämpft hatten.
Nach dem Krieg wurden der Bund und alle anderen revolutionären Organisationen zur Mitgliedschaft in der herrschenden stalinistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei gezwungen.59 Nur ein paar tausend Bundisten überlebten, viele wanderten aus und andere verschwanden. Im Jahr 1947 hielt der Bund in Brüssel einen Weltkongress ab, auf dem er sich zu einem vereinten Weltjudentum bekannte und die Notwendigkeit der Organisierung unter den jeweiligen vor Ort herrschenden Bedingungen ablehnte. Am Ende erkannte er sogar den Staat Israel und den bundistischen Ableger in dem zionistischen Staat an. Der Bund litt unter derselben Demoralisierung wie die Mehrheit der Juden. Seine kämpferischen Mitglieder suchten Frieden und Schutz, selbst um den Preis der Vertreibung eines anderen Volks aus seinem Land.
Schlussfolgerung
Die Geschichte des Bunds ist zum einen wichtig als Korrektiv zur Umschreibung der jüdischen Geschichte durch zionistische Historiker. Die Geschichte der Juden in Europa ist nicht nur die der Verfolgten und Opfer. Sie ist auch die Geschichte der Selbstorganisation und des Kampfs für eine bessere Welt, ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Der Bund spielte in diesem Kampf eine wichtige Rolle und nahm teil an den größten Momenten der Befreiung und Revolution ebenso wie an den dunkelsten Stunden der Geschichte und Auslöschung.
Die Geschichte des Bunds zeigt auch, was viele „exklusivistische“ revolutionäre Bewegungen seitdem bewiesen haben: Die Selbstorganisation einer unterdrückten Arbeiterklasse ist ein Schritt nach vorn, aber nur ein begrenzter auf dem Weg zur völligen Befreiung. Die Gründung des Bunds schuf einen Raum, in dem sich jüdische Arbeiter und Arbeiterinnen organisieren und gegen Ausbeutung und den erlebten Rassismus kämpfen konnten. Es war auch ein Schritt nach vorn für die revolutionäre Bewegung insgesamt. Der Bund entwickelte viele der Säulen einer revolutionären Organisation, von agitatorischen Zeitungen zu Vollzeitrevolutionären. Der Bund baute Gewerkschaften auf und kämpfte für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen.
Gleichzeitig war er geografisch und strukturell durch seine exklusive Basis beschränkt. Dieser Partikularismus wurzelte in der besonderen Unterdrückung der Juden. Anfangs war es keine bewusste Entscheidung, sondern die Reaktion auf die Verhältnisse, die den Bund dazu brachte, eine jüdische Arbeiterorganisation aufzubauen, weil die Arbeiter, mit denen er es zu tun hatte, fast ausschließlich jüdisch waren.
Auf dem Höhepunkt von Kämpfen, im Sieg wie in der Niederlage, zeigte sich aber auch, dass ein Sieg gegen Unterdrückung und Ausbeutung ohne das Bündnis und die Einheit aller Arbeiter nicht zu erringen ist. Unterdrückung ist unlösbar verflochten mit Ausbeutung, und nur durch den Sturz des ganzen Systems durch alle Arbeiter können letztlich alle Formen der Unterdrückung überwunden werden. Der Bund verstand das in der Theorie, zog aber in der Praxis nie alle Schlussfolgerungen. Der Kampf getrennter Organisationen für einen Staat der Nationalitäten konnte den Antisemitismus nicht beenden. Das war nur möglich mit der Einheit in der Aktion, der Einheit in der Organisation, der Einheit der Ziele, durch eine Klasse gegen die andere.
Die Mitglieder des Bunds begriffen diese Lehre auf dem Höhepunkt der revolutionären Welle, die Russland erfasste. Nicht nur hatte das Versprechen einer sozialistischen Gesellschaft und einer besseren Welt, wie es sich vor ihren Augen vollzog, eine große allgemeine Anziehungskraft. Die Bolschewiki bewiesen auch in der Praxis, dass sie die Partei waren, die am entschlossensten für Arbeitermacht und gegen Antisemitismus kämpfte. Deshalb waren es nicht nur die objektiven Bedingungen, die den Bund bewogen, den Bolschewiki beizutreten, sondern auch die bewussten Anstrengungen der Bolschewiki, den Antisemitismus zu schlagen.
In der Niederlage der revolutionären Bewegung ab den 1920er Jahren wurde auch der Bund geschlagen. Sein anfängliches Zögern, sich auf die revolutionäre Woge zu beziehen, und sein späteres Umschwenken auf Gemeinde- und Wahlpolitik beschleunigten noch seinen Niedergang. Er wurde vom Stalinismus entwaffnet und Opfer der Vernichtungspolitik der Nazis.
In gewisser Hinsicht ist die Geschichte des Bunds die Geschichte der gesamten Arbeiterbewegung Osteuropas und steht für viele ihrer Geschicke, sowohl im Sieg als auch in der Niederlage.
Heute erinnert sie uns an jene, die für eine besser Welt gekämpft haben. Sie erinnert uns an osteuropäische Juden, die angesichts allgemeiner Entmutigung ihre Zuflucht im Zionismus suchten. Sie erinnert uns an den würdevollen Heroismus der Verdammten in den dunkelsten Stunden des Jahrhunderts, und sie lehrt uns etwas über den Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung ein Jahrhundert später.
Anmerkungen
1 Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland.
2 Rose, John, 2006, S. 151.
3 Minszeles, 2010.
4 Minszeles, 2010, S. 28.
5 Minszeles, 2010, S. 30–32.
6 Minszeles, 2010, S. 43.
7 Pinson, 1945, S. 236. Über die Beschäftigung jüdischer Frauen und Mädchen siehe auch: Denz, 2009.
8 Minszeles, 2010, S. 58.
9 Minszeles, 2010, S. 64–66; Brossat, Alain, und Sylvia Klingberg, 2009, S. 49–57.
10 Minszeles, 2010, S. 43. Siehe auch Rose, 2006, S. 162.
11 Minszeles, 2010, S. 147.
12 Medem, in: Minszeles, 2010, S. 152.
13 Brumberg, 1999, S. 197.
14 Cohen, 2001, S. 120.
15 Kongressprotokolle der Zweiten Internationale, in: Pinson, 1945, S. 238.
16 Mendelsohn, 1968, S. 245.
17 Zimmerman, in: Jacobs, 2001, S. 30. Auch Bunzl, 1975, S. 62.
18 Bunzl, 1975, S. 77; Zimmerman, in: Jacobs, 2001, S. 34.
19 Kuhn, in: Jacobs, 2001, S. 148. Siehe ergänzend auch Kuhn, 2009, über den Kampf der galizischen Sozialisten gegen das Vordringen des Zionismus.
20 Brossat und Klingberg, 2009, S. 42–43.
21 Rose, 2006, S. 168.
22 Tobias, in: Jacobs, 2001, S. 356. Siehe auch Bunzl, 1975, S. 87.
23 Siehe Lenins Brief an das Organisationskomitee vom 31. März 1903, in: Lenin Werke, Band 34, S. 141.
24 Lih, 2008, S. 489–553.
25 Lih, 2011, S. 81.
26 Im Jahr 1906 trat der Bund der SDAPR auf der vierten Vereinigungskonferenz wieder bei.
27 Wrobel, in: Jacobs, 2001, S. 158.
28 Samus, in: Jacobs, 2001, S. 98–100.
29 Kuhn, in: Jacobs, 2001, S. 143.
30 Samus, in: Jacobs, 2001, S. 101.
31 Pinson, 1945, S. 254.
32 Lenin, „Der ‚linke Radikalismus‘ – die Kinderkrankheit im Kommunismus“ (1920), in: Lenin Werke, Band 31, 1983, S. 13.
33 Wrobel, in: Jacobs, 2001, S. 158–160.
34 Wrobel, in Jacobs, 2001, S. 159.
35 Cohen, in: Jacobs, 2001, S. 118.
36 Cohen, in: Jacobs, 2001, S. 114. Bronislaw Grosser war ein führender Bundist und Vertreter der nationalkulturellen Autonomie; d. Übers.
37 Marx und Engels (1845/1846), in: MEW, Band 3, 1983, S. 70.
38 Brossat und Klingberg, 2009, S. 181.
39 Brossat und Klingberg, 2009, S. 180.
40 Brossat und Klingberg, 2009, S. 182.
41 Brossat und Klingberg, 2009, S. 183.
42 Brossat und Klingberg, 2009, S. 175–191.
43 Brossat und Klingberg, 2009, S. 190.
44 Brossat und Klingberg, 2009, S. 189.
45 Wrobel, in: Jacobs, 2001, S. 160.
46 Brumberg, in: Jacobs, 2001, S. 81.
47 Brossat und Klingberg, 2009, S. 36, 176–177.
48 Brumberg, in: Jacobs, 2001, S. 81.
49 Kessler, in: Jacobs, 2001, S. 187.
50 Brumberg, in: Jacobs, 2011, S. 81.
51 Wrobel, in: Jacobs, 2001, S. 160.
52 Samus, in: Jacobs, 2001, S. 104.
53 Wrobel, in: Jacobs, 2001, S. 135. Marschall Josef Pilsudski ging als Staatspräsident und später Minister Polens zwar polizeistaatlich gegen die Opposition vor, spielte jedoch nicht die antisemitische Karte aus.
54 Wrobel, in: Jacobs, 2001, S. 207.
55 Wrobel, in: Jacobs, 2001, S. 166.
56 Brumberg, 1999, S. 206.
57 Wrobel, in: Jakobs, 2001, S. 207.
58 Den Ghettoaufstand hat Marek Edelman,1999, einer der wenigen überlebenden Teilnehmer, eindrücklich beschrieben.
59 Wrobel, in: Jacobs, 2001, S. 167.
Literatur