Welche Lehren können wir aus Kautskys Politik für heute ziehen?

Issue: 167

Tony Phillips

Zuerst auf Englisch erschienen in International Socialism 167—http://isj.org.uk/what-can-we-learn-from-kautsky-today/. Aus dem Englischen von David Paenson, Angelo Kumnenis und Rosemarie Nünning.

Anfang des 20. Jahrhunderts galt Karl Kautsky als Papst des Marxismus. Danach geriert er bis vor Kurzem allem Anschein nach vollkommen in Vergessenheit.1 Er war der führende Theoretiker der SPD – die den Anspruch hatte, eine marxistische Arbeitermassenpartei zu sein – und der Zweiten Internationale sozialistischer Parteien Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. In den Reihen der revolutionären Linken geriet er dann vollends in Verruf, als er der SPD-Führung die theoretische Rückendeckung für ihre Unterstützung der deutschen herrschenden Klasse im Ersten Weltkrieg lieferte und weil er die Russische Revolution ablehnte. Unter umgekehrten Vorzeichen wurden seine Ideen – zunächst implizit und später dann explizit – von reformistischen Führern der SPD als zu radikal verworfen, weil sie der Anpassung der Partei an das kapitalistische System im Wege standen.

In den letzten Jahren scheint er jedoch wieder an Ansehen gewonnen zu haben, zumindest bei der Linken in den Vereinigten Staaten.2 Diese Rehabilitierung Kautskys hängt zusammen mit der Beliebtheit von demokratischen Sozialisten und Sozialistinnen wie Bernie Sanders, Alexandria Ocasio-Cortez und Rashida Tlaib. Letztes Jahr veröffentlichte die linke US-Zeitschrift Jacobin eine Artikelserie, die Kautskys Schriften aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verteidigt und die Ansicht vertritt, dass sie viel Wertvolles für Sozialisten in der heutigen Zeit enthalten. Der sozialistische Historiker Lars Lih beispielsweise argumentiert, dass sich Kautsky zwar in seinen späteren Jahren nach rechts bewegt haben mag, es aber eine Kontinuität zwischen seiner Politik und der leninistischen Praxis gebe.3

In diesem Artikel wende ich mich gegen eine solche Interpretation und werde aufzeigen, dass Kautskys Auslegung des Marxismus von Beginn an fehlerhaft war. Es stimmt, dass er sich zunehmend dem rechten Flügel der SPD anpasste, allerdings bedeutete seine schließliche und explizite Verwerfung der sozialistischen Revolution keinen radikalen Bruch mit seinen früheren Ideen, wie seine heutigen Verteidiger behaupten. Kautsky führte ein langes Leben, das ihn mit vielen Ereignissen welthistorischer Bedeutung in Berührung brachte, und seine Ansichten entwickelten sich im Laufe der Zeit, aber seine Ideen sind zugleich von einer signifikanten Kontinuität geprägt. Ich werde mich sowohl auf seine theoretischen Schriften als auch auf seine Rolle in zentralen Debatten in der SPD beziehen und dabei die Frage aufwerfen, ob er die Partei auf jene revolutionäre Politik orientierte, die er zu vertreten vorgab. Angesichts der Pandemie, der tiefen Wirtschaftskrise und der Klimakatastrophe heute werde ich vor allem begründen, warum es keinen parlamentarischen Weg zum Sozialismus gibt, ob kautskyanischer oder sonstiger Art.

Kautsky – Reformist oder Revolutionär?

Zwei der Jacobin-Artikel über Kautsky porträtieren ihn als linken Refomisten, was auch immer man darunter verstehen mag. Lih argumentiert, dass Kautskys frühere Werke, vor allem sein Buch »Der Weg zur Macht«, der Strategie der Bolschewisten zugrunde lagen und für den Sieg der Russischen Revolution im Oktober 1917 unentbehrlich waren. In einem weiteren Artikel unter der provozierenden Überschrift »Why Kautsky was Right (and Why You Should Care)« (Warum Kautsky recht hatte [und warum uns das nicht egal sein kann]) behauptet der sozialistische Autor Eric Blanc, dass die Differenz zwischen Kautsky und Lenin nicht die Frage betraf, »ob eine Revolution notwendig sei, sondern den Weg dahin«.4 Blanc argumentiert, dass Kautsky keine Illusionen in die Möglichkeit eines friedlichen und schrittweisen Indienststellens der bestehenden staatlichen Institutionen zur Erreichung des Sozialismus hegte. James Muldoon schreibt seinerseits, dass »Kautskys Denken nach wie vor eine überzeugende Vision für eine Demokratisierung aller Aspekte unseres Lebens liefert«.5 Wie wahr sind diese Behauptungen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns Kautskys theoretischen Werdegang unter Bezugnahme auf seine wichtigsten Werke bis 1914 ansehen.

Vor der Deutschen Revolution im Jahr 1918 war Deutschland keine Demokratie. Der Kaiser kontrollierte als nicht gewähltes Staatsoberhaupt die Armee und die Außenpolitik und konnte nach Gutdünken Regierungen einsetzen und wieder entlassen. Im Gegensatz zu Großbritannien gab es zwar ein allgemeines Wahlrecht für Männer, aber der Reichstag, die repräsentativere der beiden Parlamentskammern, besaß nur eingeschränkte Machtbefugnisse. Das Deutsche Reich war erst im Jahr 1871 gegründet worden und bestand aus einer Föderation kleinerer Staaten, den Ländern, die jeweils einen eigenen Landtag oder ein eigenes Parlament besaßen. Das größte und bei Weitem mächtigste Land war Preußen. Eine Hauptsorge der SPD-Führung war, wie das daraus resultierende Gewirr an staatlichen Institutionen zu demokratisieren sei.

Bis zum Jahr 1890 blieben die Gewerkschaften illegal und die SPD, Zielscheibe von Kanzler Otto von Bismarcks 1878 eingeführten Sozialistengesetzen, konnte nicht offen auftreten. Nach der Aufhebung dieser Gesetze gewann die SPD sehr schnell an Einfluss und an Wählerstimmen. Dennoch blieb die Parteiführung sehr auf der Hut und wollte weiterer staatlicher Repression aus dem Weg gehen. Ein besonders augenfälliges Symptom dieser Angst zeigte sich im Jahr 1895, als das Zentralorgan der SPD, der Vorwärts, Friedrich Engels’ Vorwort zu Karl Marx’ »Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850« nachdruckte. Engels, der engstens mit Marx zusammengearbeitet hatte, musste empört feststellen, dass sein Artikel verändert worden war, um sein Eintreten für aufständische Kampfmethoden herunterzuspielen. Das Anwachsen der SPD und ihrer angegliederten Organisationen, darunter 75 Zeitungen und eine Reihe von Sportclubs, Kooperativen und sogar Parteikneipen, schuf einen ganzen Apparat von Vollzeitfunktionären. Diese SPD-Beamten und die aufsteigende Gewerkschaftsbürokratie entwickelten sich nach und nach zu einer mächtigen konservativen Kraft innerhalb der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung, wobei die Angst vor Repressionen immer öfter als Vorwand für die reformistische Parteipraxis herangezogen wurde.6 Kautskys politische Entwicklung kann am besten vor diesem Hintergrund verstanden werden.

Kautskys erstes Hauptwerk waren seine »Erläuterungen zum Erfurter Programm der SPD«, verfasst im Jahr 1892.7 An der Erstellung des Programms hatte er selbst mitgewirkt. Es unterstrich die historische »Notwendigkeit« des Sozialismus: »Die kapitalistische Gesellschaft hat abgewirtschaftet; ihre Auflösung ist nur noch eine Frage der Zeit; die unaufhaltsame ökonomische Entwicklung führt den Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise mit Naturnotwendigkeit herbei. Die Bildung einer neuen Gesellschaftsform anstelle der bestehenden ist nicht mehr bloß etwas Wünschenswertes, sie ist etwas Unvermeidliches geworden.«8 Kautsky war sich jedoch unsicher, wie sich dieser Übergang zum Sozialismus gestalten würde. Bezeichnenderweise verstand er unter dem Begriff Revolution eine radikale soziale Umwandlung und nicht einen Aufstand von unten:

Ein solcher Umsturz kann die mannigfaltigsten Formen annehmen, je nach den Verhältnissen, unter denen er sich vollzieht. Er muss keineswegs notwendig mit Gewalttätigkeiten und Blutvergießen verknüpft sein. Es hat bereits Fälle in der Weltgeschichte gegeben, wo die herrschenden Klassen besonders einsichtig oder – besonders schwach und feig waren, sodass sie angesichts einer Zwangslage freiwillig abdankten. Eine soziale Revolution braucht auch nicht mit einem Schlage entschieden zu werden. Es dürfte dies sogar kaum je der Fall gewesen sein. Revolutionen bereiten sich in jahre- und jahrzehntelangen politischen und wirtschaftlichen Kämpfen vor und vollziehen sich unter stetem Wechseln und Schwanken der Machtverhältnisse der einzelnen Klassen und Parteien, oft von lange dauernden Rückschlägen (Reaktionszeiten) unterbrochen.9

Im Jahr 1881 hatte Kautsky noch einen traditionelleren marxistischen Standpunkt vertreten: »Die Sozialdemokratie erwartet nie, mit Hilfe der Wahlen, auf parlamentarischem Weg, direkt ihr Ziel erreichen zu können«.10 Jedoch hatte die parlamentarische Aktion mittlerweile eine zentrale Rolle im Kampf um die Macht eingenommen, selbst zu der Zeit, in der er »Der Klassenkampf« verfasste. Er argumentierte sogar, dass die Arbeiterklasse einen Kampf zur Erweiterung der Machtbefugnisse des Parlaments führen müsse, zumindest in Relation zu den anderen staatlichen Institutionen:

Die Arbeiterklasse hat also nicht nur keine Ursache, dem Parlamentarismus fernzubleiben, sie hat alle Ursache, überall für die Kräftigung des Parlaments gegenüber der Staatsverwaltung und für die Kräftigung ihrer Vertretung im Parlament aufs Entschiedenste tätig zu sein.11

Kautsky mag marxistische Begriffe wie Klassenkampf, Revolution und Diktatur des Proletariats verwendet haben, aber was er darunter in der Praxis verstand, blieb vage und zweideutig. Trotz dieser radikalen Ausdrucksweise forderte er die friedliche Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse und schloss eine bewaffnete Machtergreifung aus. Der marxistische Autor John Molyneux erklärt:

Wenn Kautsky den Eindruck erweckt, Verteidiger der »Revolution« zu sein, so verteidigt er das Konzept einer parlamentarischen Revolution: Mit anderen Worten, die Arbeiterpartei soll in der Opposition bleiben und jegliche Koalition mit oder Teilnahme an einer bürgerlichen Regierung so lange ablehnen, bis sie eine parlamentarische Mehrheit errungen hat und die Regierung selbst stellen kann. Sie wird dann ihre Mehrheit benutzen, um den Sozialismus auf dem Gesetzesweg einzuführen.12

Kautsky betonte nachdrücklich die Bedeutung der Parlamentstätigkeit. In seinen »Erläuterungen« legt er dar, warum die gesetzgebende Versammlung den Mittelpunkt für jegliche politische Aktion bilden soll. »In allen Ländern mit einer parlamentarischen Verfassung obliegt es der Legislative, Steuererhebungen zu genehmigen. Daher kann die Arbeiterklasse Einfluss auf die Regierung ausüben, indem sie Vertreter ins Parlament wählt.«13

Für Kautsky war das Parlament weitaus mehr als bloß ein Mittel, um der Kapitalistenklasse Reformen zugunsten der Arbeiterklasse abzutrotzen. Seine gesamte Theorie der sozialen Transformation fußte auf der Gewinnung einer Parlamentsmehrheit. Mit einer solchen Mehrheit ginge die Kontrolle über den kapitalistischen Staat einher. Wie Massimo Salvadori in seiner detaillierten Studie über die Entwicklung von Kautskys Denken erläutert, beinhaltete diese politische Strategie, dass »der Staatsapparat wie auch der von der modernen Bourgeoisie begründete technisch-administrative Apparat […] eingesetzt, aber nicht ›zerschlagen‹« werden sollte. Diese Institutionen würden dann von der SPD gelenkt und für »eine ganze Geschichtsepoche« nicht aufgegeben werden.14 Wir werden sehen, wie Kautskys Einschätzung des Staates als eine Gewalt, die − in die richtigen Händen gelegt − gesellschaftliche Veränderung herbeiführen kann, ihn selbst und mit ihm die gesamte SPD schließlich auf gefährliches politisches Terrain führte. Allzu oft führte diese Sichtweise, wonach der Staat ein notwendiges Werkzeug für den Aufbau des Sozialismus sei, zur Verteidigung ebendieses Staates, sogar dann, wenn er progressive Bewegungen mit allen Mitteln bekämpfte.

Kautskys Haltung zu bürgerlichen Parlamenten, wie sie in »Der Klassenkampf« zum Vorschein kommt, hat herzlich wenig zu tun mit der späteren Praxis der radikalsten und revolutionärsten Vertretern und Vertreterinnen der sozialistischen Bewegung. Die Haltung von Lenins Bolschewiki zur Duma, dem nach der Russischen Revolution von 1905 eingerichteten zaristischen Parlament, war eine ganz andere. Für Lenin erschöpfte sich die Rolle des Parlaments darin, eine Plattform für die Anprangerung der Übel des kapitalistischen Systems zu bieten und als Werkzeug im Kampf außerhalb der gesetzgebenden Vertretung zu dienen, nicht aber als Mittel einer Systemveränderung.15 Das war die Haltung zur parlamentarischen Politik, die Lenin und die Bolschewiki nach ihrem Bruch mit der Zweiten Internationale im Nachgang der Russischen Revolution in die Kommunistische Internationale hineintrugen.

Kautskys Herangehensweise war aber nicht nur Lenin und den Kommunisten fremd. Sie widersprach diametral Marx’ Staatsverständnis, das durch die Erfahrung der Pariser Kommune geformt worden war. Der Aufstand der Pariser Massen im Jahr 1871 wurde durch Regierungskräfte brutal niedergeschlagen. Die Rache der Herrschenden zeigte, wozu der Staat fähig ist, wenn er von unten herausgefordert wird. Die Kommune war aber zugleich die Geburtsstunde eines neuen Modells der gesellschaftlichen Organisation. Sie schuf die erste Arbeiterregierung der Welt − nicht über die Köpfe der einfachen Bevölkerung hinweg, sondern unter ihrer aktiven Mitwirkung an demokratischen, der Basis rechenschaftspflichtigen Institutionen. Sie war daher ein ganz anderer Staatstyp als jener, der einer kapitalistischen Gesellschaft vorsteht. »Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit«,16 so schrieb Marx in seiner »Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation« in London im Juni 1871. In dieser Broschüre, bekannt als »Der Bürgerkrieg in Frankreich«, zog Marx die Lehren aus der Kommune. Er machte klar, dass der Sozialismus nur durch diese Art von Organisation errichtet werden kann, und nicht durch den Versuch, den bestehenden kapitalistischen Staat zu übernehmen: »Aber die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen.«17

Die Geschichte der sozialistischen Bewegung seither gibt Marx Recht: Der Staat ist keine neutrale Körperschaft, sondern ein Mittel zur Verstetigung der kapitalistischen Klassenherrschaft. Die reale Macht liegt nicht im Parlament, nicht einmal des demokratischsten kapitalistischen Staats. Sie liegt vielmehr in den Chefetagen der großen Banken und Konzerne, die die Wirtschaft kontrollieren, und im Staatsapparat – in den Händen leitender Beamter, Militärs, Polizeichefs und Richter. Linke Regierungen, die als Bedrohung für das Kapital wahrgenommen werden, wurden und werden routinemäßig Zielscheibe wirtschaftlicher Erpressung und Sabotage seitens Finanzinstituten unter Mitwirkung führender Staatsbeamter. Die durch die Europäische Zentralbank und den Weltwährungsfonds zerschmetterten Hoffnungen der griechischen radikal-linken Formation Syriza nach deren Regierungsantritt im Jahr 2015 ist das jüngste Beispiel dafür.18 Und wenn das nicht ausreicht, ist das Kapital willens, sich des parlamentarischen Systems ganz zu entledigen und den Staat im Staat aus Exekutive und Judikative in Bewegung zu setzen, um reformistische Regierungen zu stürzen − das berüchtigtste Beispiel war der Sturz der Volksfrontregierung Salvador Allendes in Chile im Jahr 1973. Aber sogar die Aussicht auf eine Regierungsübernahme durch den friedfertigen Jeremy Corbyn verführte im Jahr 2015 einen hochrangigen dienenden General zu der düsteren Androhung einer Meuterei in der Armee.19

Weil diese Hindernisse auf dem Weg zu einer sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft in den nicht gewählten Machtzentren verankert sind, braucht es viel mehr, als parlamentarische Mehrheiten oder die Präsidentschaft zu gewinnen. Erforderlich sind Generalstreiks, kämpferische Demonstrationen und das gesamte taktische Repertoire des Aufstands. Zentral wird die Fähigkeit der Arbeiterklasse sein, alternative Organe der Arbeitermacht zu schaffen: demokratische, in den Produktionsstätten wurzelnde Arbeiterinstitutionen, die die wirtschaftlichen und repressiven Funktionen des kapitalistischen Staats zunächst lahmlegen und dann ersetzen können. Eine solche Entwicklung ist unwahrscheinlich ohne die Herausbildung einer revolutionären Partei, die sich einen solchen Prozess der Ermächtigung der Arbeiterklasse zum Ziel gesetzt hat. Die Konzentration auf das Parlament als Hauptarena der politischen Auseinandersetzung führt zur Schwächung der Selbstaktivität der Arbeiterklasse, weil sie einer kleinen Gruppe von Parlamentariern die Verantwortung für den Kampf überlässt. Deshalb sollten Sozialistinnen niemals so handeln, als ob die Bewegungen von unten lediglich eine Hilfsfunktion für die parlamentarischen Debatten oder gar eine Linksregierung hätten. Wie es der marxistische Autor Chris Harman einmal ausdrückte: »Die Aufgabe von Revolutionären ist es, Illusionen, die Arbeiter in eine ›linke‹ Regierung hegen, zu zerstören – und das erfordert, alle begrenzten Teilkämpfe von Arbeiterinnen aufzugreifen, sie zu verallgemeinern und sie anzuführen, auch wenn sie mit der Regierungsstrategie in Konflikt geraten. Mit anderen Worten handelt es sich darum, eine linke Opposition gegen die Regierung aufzubauen und zu versuchen, die Abhängigkeit vom Staat durch die Selbstorganisation der Arbeiterinnen zu ersetzen.«20 Eine solche Herangehensweise blieb Kautsky stets fremd.

Eine passive Revolution

Im Jahr 1893 veröffentlichte Kautsky eine Geschichte der repräsentativen Demokratie mit dem Titel »Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie«,21 in der er die parlamentarische Demokratie gegen Ausdrucksformen direkter Demokratie wie Volksabstimmungen und örtliche Versammlungen verteidigte. Bemerkenswerterweise argumentierte er auch, dass die parlamentarische Demokratie keine dem Kapitalismus eigene Regierungsform sei, sondern eingesetzt werden könne, um »den verschiedensten Klasseninteressen«22 zu dienen. England als Vorbild nehmend schreibt er: »[…] die Arbeiterklasse braucht nur noch sich innerlich freizumachen vom liberalen Denken, um das englische allmächtige Parlament in ein Werkzeug der Diktatur des Proletariats zu verwandeln«.23 Die Anarchisten geißelt er für ihre Haltung, »der Staat müsse vernichtet werden«.24

Kautskys Unterstützung für den Parlamentarismus war ein Vorbote noch rechterer Strömungen in der SPD. Im Jahr 1899 veröffentlichte Eduard Bernstein sein Buch »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie« und leitete einen offenen Feldzug gegen die marxistische »Orthodoxie« der SPD Kautsky’scher Prägung. Bernstein hatte gemeinsam mit Kautsky das Erfurter Programm verfasst, wobei er für das »Minimalprogramm« unmittelbarer Forderungen verantwortlich zeichnete. »Evolutionary Socialism«, so der englische Titel des Buchs, machte aus der ohnehin um sich greifenden Praxis moderater gewerkschaftlicher und parlamentarischer Tätigkeit zur Erreichung begrenzter Reformen eine Theorie. Nach Bernsteins Konzept würden die Teilerrungenschaften der Gewerkschaften und die Verabschiedung einer Sozialgesetzgebung im Reichstag zu dem schrittweisen »Hineinwachsen« der deutschen Gesellschaft in den Sozialismus führen:

Die verfassungsmäßige Gesetzgebung arbeitet […] langsamer. Ihr Weg ist gewöhnlich der des Kompromisses […]. Aber sie ist da stärker als die Revolution, wo das Vorurteil, der beschränkte Horizont der großen Masse dem sozialen Fortschritt hindernd in den Weg tritt, und sie bietet da die größeren Vorzüge, wo es sich um die Schaffung dauernd lebensfähiger ökonomischer Einrichtungen handelt […].25

Die Ansichten Bernsteins und seiner Anhänger waren der intellektuelle Ausdruck der Interessen der Gewerkschaftsbürokratie und der Politik der offenen Klassenzusammenarbeit solcher Gestalten wie Georg von Vollmar von der bayrischen SPD. Vollmar hatte sich gegen das Erfurter Programm ausgesprochen und trat dafür ein, die Politik der Partei zu verwässern, um sie für die Bauernschaft und die liberalen Mittelschichten attraktiver zu machen und so den Weg für Koalitionsregierungen mit deren politischen Vertretern zu ebnen.

Nach einer Zeit des Zögerns nahm Kautsky den Kampf gegen diese aufkommende politische Strömung in der SPD auf. Er erhielt die Unterstützung von dem altgedienten Parteiführer August Bebel, aber auch von jüngeren Radikalen wie Rosa Luxemburg und Alexander Parvus. Sie warfen Bernstein »Revisionismus«, die Preisgabe der fundamentalen marxistischen Grundsätze, vor. Kautsky lehnte opportunistische Appelle an die Bauernschaft und die Mittelschichten ab, verteidigte die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse und stellte sich gegen Bernsteins offenen Reformismus. In seiner im Jahr 1902 veröffentlichten Schrift »Die Soziale Revolution« lehnte er die Vorstellung von einem schrittweisen »evolutionären Sozialismus« als utopisch ab:

[…] dagegen kann das Proletariat den ersten großen Sieg über das Kapital, der ihm die politische Macht in die Hände spielt, gar nicht anders verwenden, als zur Aufhebung des Kapitalverhältnisses. Solange dies nicht geschehen, wird und kann der Kampf zwischen den beiden Klassen kein Ende nehmen. Der soziale Frieden innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise ist eine Utopie, die aus den sehr realen Bedürfnissen der Intelligenz herausgewachsen ist, aber in der Wirklichkeit keine Stützpunkte zu ihrer Verwirklichung findet.26

Kautskys Gegenentwurf zu Bernsteins evolutionärem Sozialismus war allerdings eine vollkommen passive politische Strategie. Seine eigene Theorie der gesellschaftlichen Umwälzung gründete auf der Vorstellung, dass die ökonomische Entwicklung des Kapitalismus den Sozialismus zwangsläufig hervorbringe. In dem Maße, wie sich die kapitalistische Industrie ausdehnte, würde auch die Arbeiterklasse größer und sich zunehmend organisieren, und mit zunehmender Größe und besserer Organisation würde sich auch ihr Klassenbewusstsein entwickeln. Ihr wachsendes Klassenbewusstsein wiederum würde sich in immer mehr Stimmen für die SPD niederschlagen, bis es schließlich eine überwältigende sozialistische Mehrheit im Parlament gebe und damit der Beginn des sozialistischen Umbaus der Gesellschaft eingeleitet werde. Die Partei spielte in diesem Zusammenhang also lediglich eine passive Rolle als letztes Glied eines mechanischen gesellschaftlichen Prozesses, der in der wirtschaftlichen Entwicklung des Kapitalismus wurzelte. Kautsky fasste seine Theorie selbst mit den Worten zusammen: »Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei. Wir wissen, dass unsere Ziele nur durch eine Revolution erreicht werden können, wir wissen aber auch, dass es ebenso wenig in unserer Macht steht, diese Revolution zu machen, als in der unserer Gegner, sie zu verhindern.«27

Im Jahr 1904 schien der Revisionismus in den Reihen der Partei besiegt. Aber der Schein trog. Reformistische und auf Wahlen fixierte Methoden gewannen immer mehr an Boden, auch wenn die Parteiführer der marxistischen Orthodoxie Lippenbekenntnisse zollten. Fürwahr, Bernstein und Kautsky hatten viel mehr gemeinsam, als die innerparteilichen hitzigen Debatten über den Revisionismus nahelegten. Im Jahr 1898, also noch bevor sich Kautsky dazu entschieden hatte, den Kampf gegen den Revisionismus aufzunehmen, hatte er an Bernstein geschrieben: »Natürlich wünschen wir, ohne Revolution zu unserem Ziel zu kommen. Die Frage ist die, ob es geht. In England ja, ob auch in Deutschland?«28 Auch wenn er also Bernsteins offene Distanzierung von der Revolution kritisierte, tat er das auf eine Weise, die die reformistische Praxis nicht infrage stellte.

In den darauffolgenden Jahren schien Kautsky sich unter dem Einfluss der Russischen Revolution von 1905 und der wachsenden Klassenpolarisierung in Deutschland nach links zu bewegen. Der gewaltige Aufstand quer durch das russische Reich übte enormen Einfluss auf die Linke in Deutschland aus, wo die Arbeiterklasse neuen Kampfgeist bewies. Im Gegensatz zu den Anführern des rechten menschewistischen Flügels der russischen sozialistischen Bewegung, wie Georgi Plechanow, hatte Kautsky die russische Revolution und die führende Rolle der Arbeiterklasse darin kommen sehen. Er erwartete, dass sie Klassenkämpfe im übrigen Europa anspornen würde. Interessanterweise warf er auch die Frage auf, ob Russland, dessen wirtschaftliche Entwicklung verglichen mit den führenden kapitalistischen Staaten langsamer verlaufen war, das Stadium des Kapitalismus überspringen und direkt in den Sozialismus eintreten könne. Er verneinte diese Möglichkeit jedoch sofort.

Die Gesellschaft als Ganzes kann kein Entwicklungsstadium überspringen; wohl aber können einzelne, rückständige Teile das tun; sie können einen Sprung machen, um sich anderen, vorgeschrittenen Teilen anzupassen. So war es möglich, dass die russische Gesellschaft das kapitalistische Stadium übersprang, um sofort aus dem alten Kommunismus zum neuen überzugehen. Aber Voraussetzung dafür war, dass der Sozialismus im übrigen Europa schon zu einer Zeit siegte, wo in Russland die Dorfgemeinde noch als eine lebendige Kraft bestand. Das konnte anfangs der achtziger Jahre noch möglich erscheinen. Aber schon ein Jahrzehnt später lag die Unmöglichkeit dieses Überganges klar zutage. […] Hier wie dort muss der Sozialismus aus der Großindustrie erwachsen und ist das industrielle Proletariat die revolutionäre Klasse und daher die einzige, die imstande ist, bewusst und dauernd einen revolutionären Kampf gegen den Absolutismus zu führen.29

Er verstand auch die besondere historische Rolle der Bauernschaft und argumentierte, »die Russische und die Französische Revolution werden sich ähneln, insofern die Aufteilung der großen privaten Landgüter ein Band schaffen wird, das die Bauern untrennbar mit der Revolution binden wird«.30 Aber im Ergebnis argumentierte er, dass die Unterentwicklung Russlands es erfordere, dass die Revolution von 1905 sich auf die Erreichung bürgerlicher Demokratie begrenzen sollte. Hinzu kam, dass er wesentlicher vorsichtiger handelte, sobald es um die Politik daheim ging, so radikal seine Positionen in Bezug auf die Russische Revolution auch sein mochten.

Der Weg zur Macht?

Die Reichstagswahlen von 1907 bescherten der SPD ihren ersten bedeutenden Rückschlag seit der Aufhebung der Sozialistengesetze und kostete sie 38 Parlamentssitze. Im Mittelpunkt dieser Wahlen hatte die Kolonialpolitik gestanden, die nach der blutigen militärischen Niederschlagung eines Aufstands in Deutschlands Kolonie Südwestafrika (dem heutigen Namibia) ins Rampenlicht gerückt war. Die SPD hatte die Massaker verurteilt und sich gegen den Kolonialismus ausgesprochen. Dadurch verlor sie an Unterstützung bei den Mittelschichten, wobei ihr ihre Anhängerschaft in der Arbeiterklasse die Treue hielt. Der rechte Flügel der Partei, angeführt von Gustav Noske und unterstützt von Gewerkschaftsführern, gab der Linken die Schuld für die Wahlschlappe und verlangte eine patriotischere Linie. Kautsky lehnte einen solchen Kurswechsel ab und erklärte, mit dieser Wahl habe sich der Rückhalt der Partei in der Arbeiterklasse politisch gefestigt. Auf dem Stuttgarter Kongress der Sozialistischen Internationale im selben Jahr griff Kautsky offen Bernsteins Unterstützung für den Kolonialismus an.31 Ab diesem Zeitpunkt banden sich Bebel und die Parteiführung jedoch immer enger an die Gewerkschaftsbürokratie und die Revisionisten.

Im Schatten dieser Ereignisse und nach der Niederlage der Russischen Revolution von 1905 veröffentlichte Kautsky seine Schrift »Der Weg zur Macht«. Dieses Buch wird immer noch von manchen als sein radikalstes Werk betrachtet. Sogar nachdem er bei der revolutionären Linken in Ungnade gefallen war, wurde es von manchen Anführern der Bolschewiki als revolutionäres Manifest betrachtet.32 War es eins?

In »Der Weg zur Macht« erläutert Kautsky, dass zwei gesellschaftliche Entwicklungen »ein neues Zeitalter der Revolutionen« eingeläutet hätten.33 Erstens habe die Konzentration und Zentralisation von Kapital imperialistische Spannungen zwischen den mächtigsten kapitalistischen Klassen hervorgerufen. Zweitens werde die Arbeiterbewegung immer mächtiger, was zu bedeutenden Klassenkämpfen führen würde. Gewerkschaftliche Aktionen allein würden nicht mehr ausreichen, um die Interessen der Arbeiterklasse zu befördern. Die Unternehmer organisierten sich zusehends. Der Aufstieg des Monopolkapitalismus, Zölle und Steuererhöhungen zur Finanzierung des Rüstungswettlaufs würden dazu führen, dass die Preise schneller stiegen, als die Gewerkschaften Lohnerhöhungen durchsetzen könnten. Aber trotz dieser radikalen Prognose blieb Kautsky ausgesprochen vage bezüglich der Form, die eine Revolution annehmen würde. Der Historiker Carl Schorske führt aus: »Obgleich Kautskys Schilderung der objektiven Entwicklung mit größerer Gewissheit auf eine Revolution hinwies als seine früheren Schriften, zeigte seine Konzeption von der Rolle des Proletariats und der Partei eine Entwicklung zur Passivität […].«34

Ein Maßstab hierfür war Kautskys Haltung zu Massenstreiks in »Der Weg zur Macht«. Die Taktik des Massenstreiks sollte der Abwehr von Angriffen der herrschenden Klasse auf die parlamentarische Demokratie vorbehalten bleiben: »Und doch kann sich die ›direkte Aktion‹ der Gewerkschaften nur als Ergänzung und Verstärkung nicht als Ersetzung der parlamentarischen Tätigkeit der Arbeiterparteien zweckmäßig betätigen.«35 Und auch wenn er zur Anwendung käme, müsse er von oben stark kontrolliert werden. Er erkannte zwar die wichtige Rolle des Massenstreiks in der Revolution von 1905 an, aber für ihn war dieser immer bloß ein Hilfsmittel des Parlamentarismus und nie eine Alternative dazu.

Kautsky entwickelte seine Ansichten über den Massenstreik in Abgrenzung zu Rosa Luxemburg, die die Bedeutung des Massenstreiks als Mittel zur Hebung des Selbstbewusstseins der Arbeiterklasse und der Selbsterkenntnis der eigenen kollektiven Macht hervorhob. In ihrer Streitschrift »Der Massenstreik« argumentierte sie, dass eine Massenstreikbewegung der Schlüssel zur Überwindung der Trennung zwischen Politik und Ökonomie sei − was in ihren Augen ein wesentliches Kennzeichen des Reformismus war. Der Massenstreik war mehr als nur ein Mittel zur Erreichung begrenzter Ziele, er regte das revolutionäre Bewusstsein und die geistige Entwicklung der Arbeiterklasse an. Sie fasste die Dynamik des Massenstreiks mit folgenden Worten zusammen:

Das Kostbarste, weil Bleibende, bei diesem scharfen revolutionären Auf und Ab der Welle ist ihr geistiger Niederschlag: das sprungweise intellektuelle, kulturelle Wachstum des Proletariats, das eine unverbrüchliche Gewähr für sein weiteres unaufhaltsames Fortschreiten im wirtschaftlichen wie im politischen Kampfe bietet.36

Wie Schorske scharf beobachtet: »Wo Luxemburg das Proletariat als eine unwiderstehliche Macht betrachtete, schien Kautsky in ihm ein unbewegbares Objekt zu sehen.«37 Sogar kleinere Streiks heutzutage führen uns vor Augen, wie Arbeiter und Arbeiterinnen an Selbstvertrauen und politischem Bewusstsein gewinnen und zu erkennen beginnen, dass solche Ideen wie Rassismus und Sexismus, die sie in normalen Zeiten spalten, ein Hindernis für wirksames Handeln darstellen. Bei Wahlen geben Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Stimme einzeln ab, als isolierte Individuen, die dem ganzen Druck der Massenmedien und des politischen System ausgesetzt sind. Im Rahmen von Streiks, vor allem in größeren, können sie ihrer einzigartigen Macht als Klasse gewahr werden und sich sozialistischen Ideen annähern.

Sogar in den Augenblicken, da er sich am radikalsten gab, blieb Kautsky sich politisch im Wesentlichen treu. Die soziale Revolution sei aufgrund der kapitalistischen Entwicklung unvermeidlich und könne nur durch das Parlament kommen. Kautskys Weg zur Macht bestand in einem langsamen und schrittweisen Fortschritt und nicht, wie Blanc behauptet, in einem »Weg des antikapitalistischen Bruchs«.38 Dennoch brachte der radikale Ton in »Weg zur Macht« die zunehmend selbstbewussten und konservativen Gewerkschaftsführer sowie den SPD-Vorstand (der eine Veröffentlichung in der Parteipresse zu unterbinden versuchte) zur Weißglut. Aber auch wenn Kautsky diese eine Schlacht für sich entschied, passte er sich immer mehr den offen reformistischen Kräften an, die in der Partei das Sagen hatten.39 Kautsky widersetzte sich zwar den erneuten Forderungen der Revisionisten nach einem Bündnis mit liberalen kapitalistischen Parteien in der Frage der Steuerpolitik und der Wahlrechtsreform. Seine Verteidigung der politischen Unabhängigkeit der SPD von kapitalistischen politischen Parteien führte aber nicht dazu, die Selbstaktivität der Arbeiterklasse in den Mittelpunkt zu stellen.

Im Jahr 1910 kam es zu Massendemonstrationen in Preußen für die Demokratisierung der preußischen Regierung und die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts. Luxemburg und der örtliche SPD riefen zur Unterstützung der Forderungen zum Massenstreik auf. Das betrügerische Wahlrecht hatte zur Folge, dass die SPD relativ wenige Sitze im preußischen Landtag verglichen mit der Anzahl der für sie abgegebenen Stimmen errang. Und obwohl diese Bewegung parlamentarische Forderungen in den Mittelpunkt stellte, lehnte Kautsky den Massenstreik zu ihrer Durchsetzung ab, wobei er die Macht des preußischen Staats künstlich aufbauschte. Er argumentierte, der Massenstreik sei in Russland im Jahr 1905 wegen des gänzlichen Fehlens von Demokratie ein geeignetes Mittel gewesen, könne aber in Deutschland nur im Endkampf um die Macht zur Anwendung kommen.40

Kautsky und seine Unterstützer bildeten fortan das »Marxistische Zentrum« der SPD. Er und Luxemburg hatten miteinander gebrochen, nachdem er sich geweigert hatte, einen von ihr verfassten Artikel in Die Neue Zeit, dem Theoriejournal der SPD, abzudrucken, weil sie sich darin für den Massenstreik im Kampf für die Demokratie aussprach. Er geriet zunehmend unter Beschuss seitens Vertretern der radikalen Parteilinken wie Luxemburg, Clara Zetkin, Karl Radek und Anton Pannekoek, die die kämpferische Spontaneität des Massenstreiks feierten und erklärten, dieser solle nicht nur zur Demokratisierung des Staats eingesetzt werden, sondern auch um das revolutionäre Bewusstsein der Arbeiterinnen und Arbeiter zu schärfen. In einem Artikel in Die Neue Zeit griff Kautsky die Radikalen an, weil sie die Macht der direkten Aktion von Arbeitern betonten, und kritisierte den »Kretinismus der Massenaktion«.41

Und das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt dabei das Gleiche, das es bisher gewesen: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung. Nicht aber Zerstörung der Staatsgewalt.42

In einem im Jahr 1911 veröffentlichten neuen Vorwort zu »Parlamentarismus und Demokratie« kritisierte Kautsky auch die gewaltige Streikwelle, die in diesem Jahr Großbritannien erfasste: die »Große Unruhe« (the Great Unrest). Er beklagte jene oftmals von Gewerkschaftern an der Basis und gegen den erbitterten Widerstand der Gewerkschaftsführer angeleiteten Streiks: »[…] so ist der schroffe, unüberbrückbare Gegensatz zwischen Führern und Massen, der sich dabei geltend macht, doch ein großes Übel.«43 Seine Interpretation einer der größten Erhebungen in der Geschichte der britischen Arbeiterbewegung ist typisch für Kautskys Geringschätzung der Selbstaktivität der Arbeiterinnen und Arbeiter. Kautsky, so Luxemburg, liefere nur »eine theoretische Schirmwand« für die rechten Elemente in der Partei und in den Gewerkschaften, die »sich am liebsten so schnell wie möglich auf die alten bequemen Bahnen des parlamentarischen und gewerkschaftlichen Alltags zurückziehen möchten«.44 Pannekoek wirft ein Schlaglicht auf die sich entwickelnden Debatten unter sozialistischen Theoretikern zu jener Zeit:

[U]nter dem Einfluss der modernen Formen des Kapitalismus haben sich in der Arbeiterbewegung neue Aktionsformen ausgebildet, die Massenaktionen. […] Daraus erwuchsen zwei Geistesrichtungen; die eine ergriff das Problem der Revolution und suchte durch Erforschung der Wirkung, der Bedeutung und der Macht der neuen Aktionsformen zu erfassen, wie es dem Proletariat möglich sein wird, die Aufgabe zu lösen; die andere, gleichsam vor der Schwere der Aufgabe zurückschreckend, spürte in den älteren parlamentarischen Aktionsformen nach Tendenzen, die gestatteten, ihre Inangriffnahme vorläufig noch aufzuschieben.45

Kautsky über Imperialismus und Krieg

Hier ist nicht der Ort, um Kautskys Polemik mit Lenin über Imperialismus und Krieg im Detail auszubreiten. Dennoch müssen wir dieses Gebiet seines Denkens streifen, weil es ein wichtiges Beispiel dafür bietet, wohin seine reformistische Politik führte. Im Jahr 1914 betrachtete Kautsky den Imperialismus mittlerweile als politische Entscheidung des Großkapitals, und nicht als eine wirtschaftliche, durch die Entwicklung des Systems diktierte Notwendigkeit. Im Gegensatz zu Lenin und Luxemburg glaubte er nicht, dass Imperialismus und Krieg unlösbar miteinander verbunden seien. Vielmehr glaubte er, dass der Krieg nur für bestimmte Sektoren des Kapitals, wie die Rüstungsindustrie, eine rationale Wahl darstelle. Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte er die Theorie des »Ultraimperialismus«. Diese Theorie besagte, dass das kommende Stadium des Kapitalismus dadurch gekennzeichnet sein würde, dass die Großkonzerne die Staaten unter Druck setzen würden, eine internationale Vereinbarung über wirtschaftliche Konkurrenz, Handel und den Zugang zu Rohstoffen zu treffen, womit kriegerische Auseinandersetzungen vermieden würden.46 Nach Kriegsausbruch dann hielt er den Sozialismus nur noch für eine Möglichkeit, aber nicht mehr für unvermeidlich.

Wie wir bereits gesehen haben, hatte die SPD-Führung mit dem Aufstieg des deutschen Imperialismus und dem Herannahen des Weltkriegs ihre frühere Opposition zu Militarismus und Kolonialismus aufgegeben. Diese Verschiebung war vor allem ein Ergebnis der wachsenden Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratie über die Partei. Kautsky passte seine Positionen dieser politischen Realität an und stützte seine Gegnerschaft zum imperialistischen Krieg nur noch auf eine bedingte Rechtsgrundlage. Er trat dafür ein, dass Sozialisten eine andere Haltung zu einem Verteidigungskrieg im Gegensatz zu einem Angriffskrieg einnehmen sollten. Er gab auch seine frühere Position auf, wonach es die Pflicht von Sozialisten sei, den Militarismus des eigenen Staats zu bekämpfen, unabhängig von der inneren Verfasstheit der sich streitenden Nationen. Er lehnte die Vorstellung eines Massenstreiks gegen den Krieg ab und behauptete, es sei unrealistisch, von der Zweiten Internationale zu erwarten, dass sie das Blutvergießen beenden würde: die Internationale sei ein Instrument des Friedens, aber kein Mittel gegen den Krieg.47 Er akzeptierte nun die Notwendigkeit der Verteidigung der eigenen Heimat.48

Kautsky hatte an der berüchtigten Zusammenkunft der SPD-Reichstagsfraktion am Abend des 3. August 1914 teilgenommen. Mit seiner Unterstützung stimmten die Abgeordneten dafür, der Regierung am nächsten Tag Kriegskredite zu bewilligen. Für Kautsky war die Aufrechterhaltung der Parteieinheit für die Dauer des Kriegs von oberster Priorität. Nach Beendigung des Kriegs würde alles wieder seinen alten Gang gehen: die friedliche Expansion des Kapitalismus und die schrittweise Demokratisierung.49 In der Zwischenzeit sollten sich Sozialisten lieber für den Frieden als für die Revolution einsetzen, weil nur die friedliche kapitalistische Entwicklung und die langsame Arbeit der Demokratisierung zum Sozialismus führen könnten.

Die Haltung der Revolutionäre in der SPD-Linken war dem genau entgegengesetzt. Sie argumentierten, dass Arbeiterinnen und Arbeiter danach trachten müssten, den imperialistischen Krieg zwischen den verschiedenen Staaten in einen Bürgerkrieg zwischen Kapitalisten und der Arbeiterklasse zu verwandeln. Ein von Karl Liebknecht im Mai 1915 verfasstes Flugblatt verkündete: »Der Hauptfeind steht im eigenen Land!«50 Diese Radikalen kritisierten zu Recht die Zweite Internationale für ihr Versagen, Opposition zu diesem Krieg aufzubauen, und griffen deren Verteidiger, wie Kautsky, an. Luxemburg rief zur Gründung einer neuen, antiimperialistischen Internationale auf.

Lenin der Kautskyaner?

In ihren Artikeln für Jacobin versuchen Lars Lih und Eric Blanc mit unterschiedlichen Argumenten die Differenzen zwischen Kautsky und Lenin zu überspielen.51 Lih meint, Kautskys Ideen der Vorkriegszeit hätten den Bolschewiki als Leitfaden in der Russischen Revolution von 1917 gedient; diese seien im Oktober 1917 nicht durch einen Aufstand an die Macht gekommen, sondern weil sie die Mehrheit in den Arbeiterräten, den Sowjets, errungen hätten. Er fährt fort, dass sie nicht prinzipiell gegen die Einberufung eines Parlaments, der verfassunggebenden Versammlung (Konstituante), gewesen seien, denn sie selbst hätten vor der Oktoberrevolution eben das gefordert.

Hier verwischt Lih Form und Inhalt: Nach dem Aufstand im Oktober hatte sich der Ruf der Bolschewiki nach einer verfassunggebenden Versammlung erledigt. Die Schaffung einer solchen Institution hätte die Ziele der Arbeiterklasse nicht befördert, sie hätte vielmehr den rechten Strömungen wie den Menschewiki und den Rechten Sozialrevolutionären nur eine Plattform geboten, weiterhin gegen die Oktoberrevolution zu agitieren. Sowjetmacht und eine verfassunggebende Versammlung schlossen sich gegenseitig aus. Aus diesem Grund wurde die im Januar 1918 zusammentretende Konstituante durch die Sowjetregierung kurzerhand wieder abgesetzt.

Lih macht auch viel Aufheben aus Kautskys Ablehnung von Abmachungen der SPD mit bürgerlichen Demokraten, die er in »Der Weg zur Macht« als »politischen und moralischen Selbstmord« bezeichnete.52 Diese Hervorhebung der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse soll Lenins revolutionärer Strategie zugrunde gelegen haben: »Für Russland im Jahr 1917 war Kautskys Rat, kein Abkommen zu schließen, politisches Gold, das den Bolschewiki zur politischen Macht verhalf.«53 Die Vorstellung, die Bolschewiki hätten sich auf Kautsky als Richtschnur für ihre politische Strategie im Jahr 1917 berufen, entbehrt jeder Grundlage. Die Bolschewiki vertraten diese Auffassung schon lange vor der Veröffentlichung von »Der Weg zur Macht«.54 Sie war schon vor der Revolution von 1905 ein Hauptstreitpunkt zwischen ihnen und dem menschewistischen Flügel des russischen Sozialismus gewesen.55

Kautskys Marxismus stimmte mit den Ideen seiner Mentoren Marx und Engels scheinbar überein, in Wirklichkeit war dieser lediglich Ausdruck einer Zeit relativer Stabilität des kapitalistischen Systems um die Jahrhundertwende. Die Betonung des schrittweisen Fortschritts und die behauptete Unvermeidlichkeit des Sozialismus spiegelten das stetige Wachstum der deutschen Arbeiterbewegung in den Jahren 1871 bis 1914 wider. Die Begrenztheit seines Marxismus wurde jedoch angesichts der großen Verwerfungen der 1910er Jahre deutlich: mit der zunehmenden imperialistischen Konkurrenz und ihren Auswirkungen auf die Innenpolitik Deutschlands, dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der Krise der internationalen sozialistischen Bewegung, und mit der Russischen und der Deutschen Revolution, die dem Krieg ein Ende setzten. Leo Trotzki, einer der Führer der russischen Revolution, beschrieb, wie diese neue Lage Kautskys Politik immer irrelevanter machte:

Je unmittelbarer die Frage der Massenaktion durch die Entwicklung in Deutschland selbst gestellt wurde, desto ausweichender wurde die Stellung Kautskys zu ihr. […] Der imperialistische Krieg, der alle Unbestimmtheit tötete und alle Grundfragen auf die Spitze trieb, entblößte den ganzen politischen Bankrott Kautskys.56

In Wirklichkeit hatten Lenin und Kautsky in Bezug auf ihre praktische Politik auch vor 1914 außer dem marxistischen Vokabular nichts gemeinsam. Lenin war sich dessen nicht bewusst und betrachtete Kautsky in der Vorkriegszeit als intellektuelle Autorität. Als sich die SPD im August 1914 für den Kriegseintritt aussprach, war er gezwungen, sich mit den Schwächen von Kautskys Theorie und Praxis zu befassen. Die Politik des Bolschewismus mit ihrer Ablehnung des Parlamentarismus und ihrer Konzentration auf den Aufbau einer Organisation im Untergrund und auf Arbeiterselbstaktivität war bislang bloß als notwendige Anpassung an die spezifische Situation in Russland erschienen, wo die sozialistische Bewegung gnadenlos verfolgt wurde und sich die bürgerliche Demokratie noch nicht entfaltet hatte. Aber nun begann Lenin, die Bedeutung des Bolschewismus für Länder jenseits der Grenzen des russischen Zarenreichs zu erkennen. Er entwickelte eine Theorie des Imperialismus, die in scharfem Kontrast zu jener Kautskys stand, und argumentierte, dass der Krieg das Resultat der Dynamik des kapitalistischen Systems als Ganzes sei und nicht Ausdruck der Politik irgendeines Teils von Unternehmern wie den Waffenproduzenten. Auf der Suche nach einer Staatstheorie, mit der er Kautskys reformistischen Ansatz bekämpfen konnte, griff er auch auf Marx’ Schriften zurück. Wesentlicher noch war seine Neuentwicklung der marxistischen Haltung zu Theorie und Praxis, wobei er Kautskys Passivität auf der Grundlage seines Studiums des deutschen Philosophen G. W. F. Hegel ablehnte.57

Kautsky und die Deutsche Revolution

Wie von den Radikalsten in der SPD während des Ersten Weltkriegs vorausgesagt, läutete der Konflikt nicht die Wiederaufnahme friedlicher kapitalistischer Entwicklung ein, die sich Kautsky erträumt hatte. Stattdessen endete er mit Revolutionen – zunächst in Russland im Jahr 1917, und dann in Deutschland 1918. Als sich Deutschland im November 1918 am militärischen Abgrund befand, wurde das Land von Matrosenaufständen und Massenstreiks erfasst und der Kaiser war zum Rücktritt gezwungen. Es gründeten sich Arbeiterräte, die die Fabriken unter ihre Kontrolle nahmen. In dem verzweifelten Versuch, einen völligen Zusammenbruch der Armee zu verhindern, legte das deutsche Militär die formelle Gewalt in die Hände der SPD und ließ es zu, dass die Sozialdemokratie zum ersten Mal in den 47 Jahren seit Staatsgründung die Regierung bildete. Die folgenden fünf Jahre waren gekennzeichnet von bitteren Kämpfen zwischen der Arbeiterklasse und der SPD-Regierung, die alles unternahm, um die Arbeiterräte zu unterdrücken und die Bewegung auf den parlamentarischen Weg zu lenken. Nicht selten verbündete sich die SPD mit der Militärführung und ihren paramilitärischen Freikorps, um Arbeiteraufstände niederzuschlagen. Faktisch führte die SPD-Theorie, dass der Staat der Dreh- und Angelpunkt für sozialen Fortschritt sei, zur Verteidigung eben dieses Staats gegen den Widerstand der Arbeiterklasse.

James Muldoon für seinen Teil argumentiert in Jacobin, dass Kautsky »eine Vision von einer sozialistischen Republik bot, die heute unsere erneute Aufmerksamkeit verdient«. Wie Chris Harman und Pierre Broué in ihren klassischen Geschichten der Deutschen Revolution aufzeigen, spielte Kautsky in diesen Ereignissen allerdings eine erbärmliche Rolle.58 Kautsky hatte die SPD im Jahr 1917 nur sehr widerwillig aus Protest gegen ihre sklavische Unterstützung für die Kriegsanstrengungen verlassen und eine Rolle im Aufbau der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) gespielt. Die Anführer der USPD sprachen gelegentlich eine revolutionäre Sprache, aber ihre Praxis unterschied sich nicht von der des Marxistischen Zentrums der Vorkriegs-SPD. Als die Revolution im Jahr 1918 ausbrach, bestand für Kautsky ihr Ziel in einer demokratischen parlamentarischen Republik, die Anfang 1919 bereits ausgerufen worden war, und in der »Vergesellschaftung« der Produktion durch Fabrik- und Arbeiterräte. In der Praxis bedeutete dies, den Sturz des Staats in dem Moment, da dieser am schwächsten war, abzulehnen und sich gegen die Entwaffnung des militärischen Oberkommandos auszusprechen, sodass die Generäle und Kapitalisten eine Verschnaufpause erhielten, um neue Kräfte zu sammeln.

Kautskys Verbundenheit mit dem Parlamentarismus drückte sich in seinem leidenschaftlichen Eintreten für die neue Nationalversammlung als Gegenspieler zur politischen Machtergreifung durch die Arbeiterräte aus, die in seinen Augen die Produktion zum Stehen bringen und eine Konterrevolution provozieren würden. Jegliche Alternative zur parlamentarischen Demokratie bedeutete für ihn Chaos.59 Er argumentierte, die Demokratie erfordere das Bestehen eines Parlaments an der Seite der Arbeiterräte, weil es im Gegensatz zu Arbeiterräten die gesamte Bevölkerung verträte. Das widersprach natürlich seiner früheren Überzeugung, dass die Diktatur des Proletariats die ausschließliche Herrschaft der Arbeiterklasse bedeutete − wenn auch nur durch eine sozialistische Mehrheit im Parlament ausgeübt. Ferner ließ er die wahre Funktion der Nationalversammlung außer Acht, die darin bestand, die Energie der Arbeiterbewegung verpuffen zu lassen.60

Die neue SPD-Regierung ernannte Kautsky im November 1918 zum Vorsitzenden der Sozialisierungskommission. Die offizielle Aufgabe dieser Kommission war die »Vergesellschaftung« der Industrie, also ihre Überführung aus privatem Besitz in öffentliche oder Arbeiterkontrolle. Die Führung der SPD verfolgte damit aber einen wesentlich zynischeren Plan. Für sie bestand die Rolle der Kommission darin, die Arbeiterräte zu beschwichtigen und sie daran zu hindern, noch radikaler gegen die Unternehmer vorzugehen. Die SPD-Minister hatten überhaupt nicht vor, die Empfehlungen der Kommission in die Tat umzusetzen, und Kautsky und alle anderen Kommissionsmitglieder traten im Februar 1919 aus Protest wieder zurück. Dennoch stellte Kautskys Rolle in der Kommission zu keinem Zeitpunkt eine ernsthafte Herausforderung für das Kapital dar. Die Wiederbelebung der Produktion im Nachkriegsdeutschland hatte für ihn unbedingten Vorrang, denn der Sozialismus war ja unmöglich ohne wirtschaftliche Entwicklung. Seine Ziele waren sehr bescheiden. In einer Rede vor dem Zweiten Reichsrätekongress im Februar 1919 erklärte er, dass eine »vollständige Vergesellschaftung nur eine leere Losung« und eine »ruinöse Hoffnung« sei, die »jegliche kapitalistische Produktion unmöglich machen« würde.61 Stattdessen trat er für die Einrichtung von Betriebsräten bestehend aus Unternehmer- und Gewerkschaftsvertretern ein.

Kautskys Glaube, dass der kapitalistische Staat transformiert und demokratisiert werden könne, bildete den Rahmen für seine politischen Aktivitäten. Da der Sozialismus eine linke Parlamentsmehrheit erforderte, setzte er sich mit besonderem Nachdruck für die Einheit von SPD und USPD ein. Als ein großer Teil der USPD für den Eintritt in die junge Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) stimmte, ergriff Kautsky die Gelegenheit, um zur SPD zurückzukehren. Er griff den Bolschewismus und die KPD immer heftiger an und machte sie für die Spaltung der Arbeiterbewegung, die Niederlage der Deutschen Revolution und den schließlichen Sieg der Nazis und des Stalinismus verantwortlich.

Kautsky und der linke Reformismus heute

Sind die Ideen Karl Kautskys heute noch relevant? Die linksreformistische politische Praxis, die er vertrat, ist im letzten Jahrzehnt wieder beliebt geworden. Obwohl die meisten Menschen, die Sanders’ Fahne hochgehalten oder in die Labour Party geströmt sind, um Corbyn zu unterstützen, von Kautsky noch nie gehört haben werden, sind seine Ideen wichtig – allerdings nicht wegen der positiven Gründe, die die Jacobin-Artikel, auf die wir uns beziehen, anführen. In seinem Beitrag meint Blanc: »Kautskys radikaldemokratische Vision ist nicht das letzte Wort in marxistischer Politik, sie ist ein hervorragender Ausgangspunkt.« Er fährt fort:

Ohne eine realistische Strategie werden wir den Kapitalismus niemals überwinden können. Ohne zunächst demokratische Wahlen zu gewinnen, werden Sozialisten nicht über die notwendige Legitimität und Macht der breiten Massen verfügen, um einen antikapitalistischen Bruch vollziehen zu können.62

In seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch »The Socialist Manifesto« stellt sich Jacobin-Herausgeber Bhaskar Sunkara die Einführung einer sozialistischen Gesellschaft in den USA durch einen linken Präsidenten mit sozialistischer Mehrheit im Kongress vor.63 Möglicherweise hat er es nicht ganz ernst gemeint, als er Bruce Springsteen in der Rolle des zukünftigen sozialistischen Präsidenten sah, aber er ist jedenfalls davon überzeugt, dass es in den USA einen Weg zum Sozialismus über Wahlen gibt. Sunkara betont die Notwendigkeit, das US-amerikanische Wahlsystem zu demokratisieren, und räumt ein, dass die Fixierung auf Wahlen ein Problem für die Linke ist, weshalb er auch sagt, dass Druck durch Massenaktionen auf der Straße und durch Streiks erforderlich sei und dass Sozialisten sich »in den Kämpfen der Arbeiterklasse verankern« müssen.64 Dennoch betrachtet er den Sozialismus aber vielmehr als Ergebnis von Wahlen als von Revolution, wobei Arbeitskämpfe eher ein Hilfsmittel sind und nicht der zentrale Motor für den gesellschaftlichen Wandel. Ferner zieht Sunkara keinen Bruch mit der Demokratischen Partei in Betracht − einer durch und durch kapitalistischen Wahlformation, deren Funktion, wie er selbst zugibt, darin besteht, »jedem Aufbegehren von unten einen Riegel vorzuschieben«.65

Blanc führt die Erfahrung Finnlands im Jahr 1917/18 als positives Beispiel für das Benutzen des Parlaments in einer bürgerlichen Demokratie an. Leider ist es alles andere als das.66 Nur wenige Monate nach ihrem Machtantritt wurde die sozialistische Regierung mit äußerster Gewalt gestürzt und schätzungsweise 100.000 Arbeiterinnen und Arbeiter wurden von den siegreichen reaktionären Armeen umgebracht.67 Otto Kuusinen, einer der Anführer der finnischen Sozialdemokraten, fasste die begangenen Fehler mit folgenden Worten zusammen:

Was war aber die Losung der Sozialdemokraten? Arbeiter an die Macht? Nein, es war Demokratie, eine Demokratie, die nicht missachtet werden durfte. Unsere Haltung … war utopisch. Eine solche Demokratie konnte bestenfalls nur auf dem Papier geschaffen werden. So etwas hat es nie gegeben in einer Gesellschaft, die aus Klassen besteht, und kann daraus auch nicht entstehen. In einer Demokratie hat es immer eine Räuberklasse gegeben, die dem Volk die Macht gestohlen hat.68

Blanc behauptet, dass demokratisch gewählte Regierungen über »zu viel Rückhalt bei der arbeitenden Bevölkerung und über zu große Waffengewalt verfügten, um ein revolutionäres Herangehen realistisch erscheinen zu lassen«.69 Er führt aus, dass die Oktoberrevolution in Russland »einen autokratischen, nichtkapitalistischen Staat, kein parlamentarisches System gestürzt« habe. Damit vergisst er, dass im Februar 1917 sehr wohl ein parlamentarisches Regime errichtet worden war, das dann durch den Oktoberaufstand gestürzt wurde.70 Weiterhin behauptet er, dass die Arbeiterklasse noch nie Arbeiterräten den Vorzug vor dem Parlament gegeben habe − aber das ist bestenfalls eine sehr selektive Lesart der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. Es ist richtig, dass Arbeiterräte noch nicht an die Stelle eines parlamentarischen Regimes getreten sind. Aber es gibt eine Reihe von Beispielen dafür, dass Arbeiter und Arbeiterinnen in revolutionären Situationen Arbeiterräte oder ähnliche Organe neben dem Parlament errichtet haben: Deutschland in den Jahren 1918 bis 1923, Italien 1920, Spanien 1936 und Chile 1972.71

Parlamente und andere ähnliche Institutionen bürgerlicher Demokratie legitimieren die kapitalistische Herrschaft, indem sie die realen Machtbeziehungen verschleiern. Sie spalten die Arbeiterklasse geografisch auf, institutionalisieren die Trennung von Politik und Wirtschaft und trennen die legislative von der exekutiven Funktion des Staats. Angesichts fehlender Rechenschaftspflicht für die Abgeordneten vertritt nicht einmal das demokratischste aller Parlamente die Interessen der Arbeiterinnen. Die Parlamente lähmen vielmehr die Kampfkraft der Arbeiter, statt sie zu befördern. Die Arbeiterinnen und Arbeiter mögen in normalen Zeiten die Legitimität von Parlamenten im Großen und Ganzen akzeptieren, aber in revolutionären Zeiten sind sie gezwungen, sich eigene Formen der kollektiven gesellschaftlichen Organisation zu schaffen. Durch Organe wie Arbeiterräte können sie ihre Macht am Ort der Produktion sowohl für wirtschaftliche als auch für politische Ziele einsetzen und die Funktionen des kapitalistischen Staats zu übernehmen beginnen.

Blanc bezieht sich zustimmend auf Kautskys Auffassung, wonach durch »die technische Revolution des Kapitalismus« die »Machtmittel des modernen Staates ungeheuer gewachsen« seien, das beträfe auch die Waffentechnik, weshalb der Kapitalismus nicht mehr nach dem alten Muster der Barrikadenkämpfe des 19. Jahrhunderts gestürzt werden könne.72 Engels war zu derselben Schlussfolgerung bereits im Jahr 1895 gelangt, wie er in seinem Vorwort zu Marx’ Schrift »Klassenkämpfe in Frankreich« ausführte. Das heißt allerdings nicht, Engels wäre der Meinung gewesen, dass der Sozialismus über das Parlament eingeführt würde, dass Aufstände der Vergangenheit angehörten oder dass Straßenkämpfe keine Rolle mehr spielten. Er meinte lediglich, dass eine erfolgreiche Revolution nicht mehr das Werk einer Minderheit sein kann.73 Engels schrieb dies, bevor die revolutionäre Rolle von Massenstreiks und Arbeiterräten bekannt war. Der Kapp-Putsch von 1920, die Vereitelung des faschistischen Putsches in Spanien 1936 und die Portugiesische Revolution von 1974 zeigen alle, dass moderne Armeen von revolutionären Arbeitern geschlagen werden können. In jüngerer Vergangenheit zeigt die sudanesische Revolution – auch wenn sie noch nicht siegreich war –, dass die Armee eines modernen Staats durch Volkswiderstand erfolgreich herausgefordert werden kann.74 Eine klare politische Führung ist mindestens so wichtig wie rohe Gewalt.

Für Kautsky war Demokratie ein abstraktes historisches Phänomen, das schon unter dem Feudalismus existierte, im Kapitalismus fortbestand und im Sozialismus weiterbestehen würde. Die Demokratie wird zwar durch die Klassenstruktur der jeweiligen Gesellschaften geprägt, ist aber im Wesentlichen unabhängig von ihr. Für revolutionäre Marxisten ist die bürgerliche Demokratie etwas qualitativ anderes als Arbeiterdemokratie. Die bürgerliche Demokratie ist die bevorzugte Herrschaftsform der Kapitalistenklasse, weil sie es ihr ermöglicht, sich auf die Legitimierung seitens des Volks zu berufen, auch wenn das allgemeine Wahlrecht und viele andere demokratische Rechte erst durch Kämpfe der Arbeiterklasse errungen werden mussten.75 Die Bourgeoisie hat, wenn sie es für nötig befand, auch immer mal wieder das Parlament einfach aufgelöst.

Kautsky glaubte, die Demokratie sei etwas anderes als der Sozialismus, wenn auch eine notwendige Vorbedingung dafür, und in seiner Frühzeit war er auch der Meinung, dass die Diktatur der Proletariats durch das Parlament ausgeübt werden könnte. Was Revolutionäre unter Diktatur des Proletariats verstehen, ist die Ausübung der Macht durch die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst, um die herrschende Klasse zu unterdrücken und ihren Staat zu zerschlagen. Das erfordert die demokratische Herrschaft der Arbeiterklasse mittels Arbeiterräten und Arbeitermilizen. Im Gegensatz zu den Behauptungen von Kautsky müssen diese Formen der proletarischen Demokratie Ergebnis von Kämpfen zur Ersetzung der gesonderten Körperschaften bewaffneter Männer und Frauen und der Staatsbürokratie sein, deren Funktion die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Klassenherrschaft ist. Wie es Lenin formulierte: »Diktatur bedeutet nicht unbedingt die Aufhebung der Demokratie für die Klasse, die diese Diktatur über die anderen Klassen ausübt; sie bedeutet aber unbedingt die Aufhebung der Demokratie (oder ihre äußerst wesentliche Einschränkung, was auch eine Form der Aufhebung ist) für die Klasse, über welche oder gegen welche die Diktatur ausgeübt wird.«76 Luxemburg analysierte:

Als eingefleischte Zöglinge des parlamentarischen Kretinismus übertragen sie auf die Revolution einfach die hausbackene Weisheit der parlamentarischen Kinderstube: um etwas durchzusetzen, müsse man erst die Mehrheit haben. Also auch in der Revolution: zuerst werden wir eine »Mehrheit«. Die wirkliche Dialektik der Revolutionen stellt aber diese parlamentarische Maulwurfsweisheit auf den Kopf: nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg.77

Blanc erhebt den seltsamen Vorwurf, dass »Leninisten sich oft zögerlich gezeigt hätten, gezielt für wichtige demokratische Reformen zu kämpfen«.78 In Wirklichkeit standen sie dort, wo sie reale Kräfte vor Ort hatten, immer an vorderster Front in allen wichtigen Kämpfen der letzten hundert Jahre für demokratische Reformen, beginnend mit dem Kampf für den Sturz des Zarismus in Russland über die Anti-Apartheid-Bewegung bis hin zum Kampf gegen die Militärdiktatur in Ägypten heute. Es ist Teil des marxistischen Verständnisses, dass die bürgerliche Demokratie den günstigsten Boden für den Kampf für den Sozialismus bietet, und dass Sozialisten sie verteidigen müssen. Daraus folgt allerdings nicht, dass der Kapitalismus durch die Institutionen der bürgerlichen Demokratie gestürzt werden kann, wie Kautsky sein Leben lang glaubte.

Reformistische Linke werden darauf hinweisen, dass es außer dem kurzlebigen Erfolg der Russischen Revolution nie eine siegreiche sozialistische Revolution gab. Revolutionäre Sozialisten werden antworten, dass auch über das Parlament keine echte, dauerhafte sozialistische Gesellschaft errichtet wurde. Es gab in den letzten Jahren ein sehr begrüßenswertes neues Interesse an sozialistischen Ideen, angeregt durch den Corbynismus in Großbritannien und den Sanderismus in den USA. Diesen Bewegungen ist es aber nicht gelungen, einen Sozialisten in die Downing Street Nr. 10 oder ins Weiße Haus zu bringen – ganz zu schweigen von einem Beginn der sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft, die so dringend benötigt wird. Sozialistinnen und Sozialisten sollten natürlich Wahlkämpfe unterstützen und sich gegebenenfalls an ihnen beteiligen, aber diese müssen Mittel zum Aufbau der Massenbewegung in den Betrieben und den Stadtvierteln sein. Dort liegt die Macht der Arbeiter und Arbeiterinnen, und deshalb wird das kapitalistische System auch an diesem Ort gestürzt werden. In den Werken Kautskys werden wir vergeblich nach einer Anleitung suchen, wie wir das erreichen können.


Fußnoten

1 Ich danke Joseph Choonara, Gareth Jenkins und John Rose für ihre Kommentare und hilfreichen Vorschläge zu früheren Entwürfen für diesen Artikel.

2 Aber auch in Teilen der deutschen Linken, siehe Horst Heiningers Artikel in Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung, der die fundamentalen Differenzen zwischen Lenin und Kautsky eher als geringfügige Meinungsverschiedenheiten behandelt: www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/847.zur-imperialismustheoretischen-leistung-karl-kautskys.html (Anm. d. Übers.).

3 Lih, Lars (2019) »Kautsky as Architect of the Russian Revolution«, Jacobin, tinyurl.com/ydd5r42x .

4 Blanc, Eric (2019) Why Kautsky was Right (and Why You Should Care), Jacobin (April), http://www.jacobinmag.com/2019/04/karl-kautsky-democratic-socialism-elections-rupture.

5 Muldoon, James (2019) »Reclaiming the Best of Karl Kautsky«, Jacobin, www.jacobinmag.com/2019/01/karl-kautsky-german-revolution-democracy-socialism .

6 Siehe Schorske, Carl (1981) Die Große Spaltung. Die deutsche Sozialdemokratie 1905-1917, Kapitel 4 und 5.

7 Kautsky, Karl, Das Erfurter Programm in seinem grundsätzlichen Teil erläutert (1892), www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1892/erfurter .

9 Ebenda.

10 Kautsky (1881) »Wahlen und Attentate« in: Der Sozialdemokrat Nr. 23, 5. Juni 1881, zitiert nach Massimo Salvadori, Sozialismus und Demokratie. Karl Kautsky 1880−1938, S. 27.

12 Molyneux, John (1985) What is the Real Marxist Tradition? (Bookmarks) S. 37.

13 »In all parliamentary countries it rests with the legislative body to grant tax levies. By electing representatives to parliament, therefore, the working-class can exercise an influence over the governmental powers.« www.marxists.org/archive/kautsky/1892/erfurt/ch05.htm. An dieser Stelle im deutschen Original findet sich folgende, nicht ganz deckungsgleiche Passage: »Das Recht und die Möglichkeit der Steuerverweigerung ist die Grundlage, aus der sich die Rechte, Gesetze zu machen oder abzulehnen und Ministerien zu stürzen, entwickelt haben, Rechte, die jedem Parlament zustehen, welches diesen Namen in Wirklichkeit verdient […]« www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1892/erfurter/5-klassenkampf.htm#t9 (Anm. d. Übers.)

14 Zitiert nach: Massimo Salvadori, Sozialismus und Demokratie. Karl Kautsky 1880-1938, S. 16, 52. Siehe auch: »Wo das Proletariat als selbstbewusste Klasse an den Kämpfen ums Parlament (namentlich den Wahlkämpfen) und im Parlament Anteil nimmt, beginnt denn auch der Parlamentarismus sein früheres Wesen zu ändern. Er hört auf, ein bloßes Herrschaftsmittel der Bourgeoisie zu sein.« https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1892/erfurter/5-klassenkampf.htm

15 Siehe Badajew, A. , 1957 [1929], Die Bolschewiki in der Reichsduma.

16 Marx, Karl, Der Bürgerkrieg in Frankreich, www.mlwerke.de/me/me17/me17_319.htm.

17 Ebenda.

18 Garganas, Panos (2015) »Why did Syriza Fail?«, International Socialism 148, isj.org.uk/why-did-syriza-fail .

19 Kimber, Charlie (2020) »Why did Labour Lose?«, International Socialism 166, http://isj.org.uk/why-did-labour-lose .

20 Harman, Chris, 1977, The Workers’ Government, SWP International Discussion Bulletin, www.marxists.org/archive/harman/1977/xx/workersgov.htm.

21 Neu herausgebracht 1911 unter dem Titel Parlamentarismus und Demokratie.

22 Kautsky, Parlamentarismus und Demokratie, 2. Auflage 1911 (1. Auflage 1893) S. 109.

23 Ebenda.

24 Ebenda S. 74.

25 Bernstein, Eduard (1899) Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Schlusskapitel »Kant wider Cant«, www.marxists.org/deutsch/referenz/bernstein/1899/voraus/schluss.html .

26 Kautsky (1902) Die Soziale Revolution, 3. Auflage, S. 51. (Hier S. 46: archive.org/details/bub_gb_iykOAAAAYAAJ/page/n7/mode/2up)

27 Kautsky (1909) Der Weg zur Macht, Kapitel 5: »Weder Revolution noch Gesetzlichkeit um jeden Preis«, www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1909/macht/5-weder.htm.

28 Kautsky in einem Brief an Eduard Bernstein, 18. Februar 1898, in: Till Schelz-Brandenburg, Eduard Bernsteins Briefwechsel mit Karl Kautsky (1895-1905), Campus Verlag 2003, S. 552. Im nachfolgenden Absatz schreibt er weiter: »Nun stimme ich Dir vollständig bei, dass in England der Weg der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft ohne Revolution offen ist.«

29 Kautsky (1905) Die Differenzen unter den russischen Sozialisten, sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/karl-kautsky/1905/karl-kautsky-die-differenzen-unter-den-russischen-sozialisten. Karl Marx hatte 1881 eine solche Entwicklung für möglich gehalten: http://www.mlwerke.de/me/me19/me19_242.htm.

30 Kautsky (1906) »Revolutions, Past and Present«, www.marxists.org/archive/kautsky/1906/xx/revolutions.htm (aus dem Englischen rückübersetzt).

31 Riddell, John, Lenin’s struggle for a revolutionary international.

32 Siehe Lenin, W. I. (1918) Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Werke Bd. 28, S. 225-327.

34 Schorske, S. 155-156.

35 Kautsky, Der Weg zur Macht, »Die Verschärfung der Klassengegensätze«, www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1909/macht/8-versch.htm .

36 Luxemburg, Rosa, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Kapitel III, www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1906/mapage/kap3.htm.

37 Schorske, S. 155.

38 Blanc.

39 Siehe Schorske S. 236-238.

40 Schorske, S. 223-242.

41 Kautsky (1912) »Die Neue Taktik«, in: Die Neue Zeit, www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1912/xx/taktik.htm.

42 Kautsy, »Die Neue Taktik«.

43 Kautsky, Parlamentarismus und Demokratie, Vorwort zur zweiten Auflage (1911), S. 10.

44 Luxemburg (1910) »Ermattung oder Kampf«, Gesammelte Werke Bd. 2, S. 374.

45 Pannekoek, Anton (1912) »Marxistische Theorie und revolutionäre Taktik«, in: Die Neue Zeit, 31. Jg., Bd. I, S. 365-373, zitiert in: A. Pannekoek, H. Gorter, Organisation und Taktik der proletarischen Revolution, Archiv sozialistischer Literatur 11, Verlag Neue Kritik Frankfurt, 1969, S. 49-50.

46 Kautsky (1914) Der Imperialismus www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/index.htm, Abschnitt 4 »Akkumulation und Imperialismus«. Der Artikel erschien erst nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Die Neue Zeit, Jg. 32, Bd. II, S. 908–922.

47 Kautsky (1914) »Die Sozialdemokratie im Kriege«, in: Die Neue Zeit, 33. Jg. 1914/15, 1. Bd., S. 1–8, und Die Internationalität und der Krieg, in ebenda, S. 225–250, zitiert in Rosa Luxemburg, Der Wiederaufbau der Internationale, 15. April 1915, www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1915/04/wiedaufint.htm.

48 Salvadori, S. 253. Siehe dazu Lenins »Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Werke, Bd. 28, S. 282, 285.

49 Siehe Salvadori, Kapitel VI.

51 In einem früheren Artikel für dieses Journal analysierten Gareth Jenkins und Kevin Corr Lihs »Lenin Rediscovered«, in dem letzterer die These aufstellt, Lenins Politik sei von der Kautskys nicht zu unterscheiden: The case of the disappearing Lenin, isj.org.uk/the-case-of-the-disappearing-lenin/.

52 Kautsky, Der Weg zur Macht, Kapitel 9: Ein neues Zeitalter der Revolutionen, www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1909/macht/9-zeitalter.htm.

53 Lih, 2019.

54 Siehe Lenin in Day and Gaido, 2011, S. 580, 586.

55 Cliff, Tony (1986) [1975], Lenin: Building the Party (Bookmarks) S. 142−146.

56 Trotzki, Leo, Terrorismus und Kommunismus, Abschnitt: Karl Kautsky, seine Schule und sein Buch, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1920/terror/09-schule.html.

57 Molyneux, John (2017) [1978], Marxismus und Partei, S. 72-78; Lenin, V. I., Hefte zur Philosophie, Werke, Bd. 38, S. 369−381.

58 Siehe Chris Harman (1998) Die verlorene Revolution. Deutschland 1918-1923 sowie Pierre Broué (1973) Die Deutsche Revolution 1918-1923.

59 Salvadori, S. 347.

60 Rosa Luxemburg, nach anfänglicher Kritik, befürwortete den Schritt der Bolschewiki, die Konstituante aufzulösen, und schrieb am 18. November 1918 in der Rote Fahne, auf Deutschland bezogen, Eberts SPD-Regierung »beruft die Konstituierende Nationalversammlung ein, schafft somit ein bürgerliches Gegengewicht zur Arbeiter- und Soldatenvertretung, verschiebt somit die Revolution auf das Geleise einer bürgerlichen Revolution, eskamotiert die sozialistischen Ziele der Revolution« (Werke Bd. 4, S. 398−399). In Anbetracht der Schwäche der Rätebewegung und des Einflusses der Partei darin sprach sie sich allerdings für die Teilnahme der frisch gegründeten KPD an den Wahlen zu eben dieser Nationalversammlung im Januar 1919 aus. Aus diesem taktischen Zugeständnis macht Alex Demirović in der Zeitschrift Luxemburg eine grundlegende Gleichgültigkeit Luxemburgs in dieser entscheidenden Frage: »Dies legt die These nahe, dass es ihr gar nicht um die besondere politische Form – Parlament, Arbeiterparlament oder Räte – ging, sondern um eine möglichst breite Grundlage der Demokratie.« www.zeitschrift-luxemburg.de/eine-neue-zivilisation/ (Anm. d. Übers.)

61 Fowkes, Ben (Hg.) (2015) The German Left and the Weimar Republic – A Selection of Documents, S. 33.

62 Blanc.

63 Sunkara, S. 14.

64 Sunkara, S. 226.

65 Sunkara, S. 231.

66 Für eine ausführliche Darstellung siehe Victor Serge (2015) Year One of the Russian Revolution, sowie John Newsinger (2018) »›The Axe Without an Edge‹: Social Democracy and the Finnish Revolution of 1918«, International Socialism 159, http://isj.org.uk/the-axe-without-an-edge .

67 Serge, S. 188.

68 Zitiert nach Newsinger.

69 Blanc.

70 Blanc.

71 Zu Deutschland und Italien siehe Donny Gluckstein (1984) The Western Soviets: Workers’ Councils Versus Parliament; zu Spanien siehe Pierre Broué und Émile Témime, Revolution und Krieg in Spanien, Kapitel 5; zu Chile siehe Colin Barker (1987) Revolutionary Rehearsals, S. 55-61.

72 Blanc; Kautsky, Die soziale Revolution, S. 18, 52–54.

73 Engels, 1895.

74 Siehe Anne Alexander (2020) »Class, Power and Revolution in Sudan«, International Socialism 166, isj.org.uk/class-power-and-revolution-in-sudan .

75 Blanc.

76 Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Werke Bd. 28, S. 233.

77 Luxemburg, Rosa, Zur russischen Revolution, Teil II, www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/teil2.htm.

78 Blanc.


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