Israels Roadmap zum Genozid

Issue: 181

Rob Ferguson

Zuerst erschienen in International Socialism Journal 181 (Winter 2023/24)
Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning

Während ich diesen Artikel verfasse, legt Israel den Gazastreifen in Schutt und Asche.1 Die Krankenhäuser funktionieren nicht mehr und die medizinische Versorgung ist insgesamt zusammengebrochen. Die Versorgung mit Treibstoff, Wasser und Lebensmitteln wurde unterbrochen. Fast die Hälfte der Häuser im Gazastreifen wurden zerstört oder beschädigt.2 Rund 1,6 Millionen Menschen, 70 Prozent der Bevölkerung Gazas von 2,3 Millionen, sind Binnenvertriebene. Die Hälfte der Bevölkerung wurde aufgefordert, in den Süden zu gehen, durch postapokalyptische Landschaften und Freifeuerzonen der Israelischen Streitkräfte (Israel Defense Forces, IDF).

Es gibt keinen Zufluchtsort, keine „sichere“ Zone oder einen Schutz Israels Roadmap zum Genozid raum. Über 11.000 wurden getötet, zwei Drittel von ihnen Frauen und Kinder.3 Ärzt:innen, Journalist:innen und selbst Mitarbeiter:innen des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNWRA) sind im Visier der israelischen Armee. Angriffe auf Krankenhäuser und medizinisches Personal wurden zu einem grotesken Symbol des israelischen Kriegs gegen die Zivilbevölkerung. Mit Datum vom 17. November konnten 75 Prozent der Krankenhäuser von Gaza ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Weniger als die Hälfte der Krankenhausbetten stehen noch zur Verfügung.4

Das Gemetzel ist im gesamten politischen Spektrum begleitet von einem immer lauter werdenden Trommelfeuer aus rassistischer und Völkermordrhetorik. Millionen auf der Welt erhalten stündlich Nachrichten in Echtzeit, die die Kriegsverbrechen Israels bezeugen. Überall auf der Welt sind Massenbewegungen entstanden, insbesondere im Nahen Osten, aber auch im Herzen des Empires—Großbritannien, Europa und den Vereinigten Staaten. Diese Protestbewegungen haben die Frage der Solidarität mit Palästina in den Mittelpunkt der globalen Politik gerückt und stellen eine Kampfansage an die herrschenden Klassen dar, für die die Verteidigung Israels untrennbar mit ihren eigenen imperialistischen Interessen verbunden ist.

Der israelische Krieg in Gaza veranschaulicht mit seinem ganzen Schrecken die Natur des zionistischen Projekts: jeden palästinensischen Widerstand unerbittlich zu zerschlagen. Der Angriff auf die Zivilbevölkerung ist nicht einfach Ausdruck eines Wutanfalls, sondern einer gezielten Strategie, den Widerstandsgeist der Palästinenser:innen zu brechen und sie vollständig zu unterwerfen. Doch trotz all des Schreckens und der Übermacht des israelischen Staats ist dieser Krieg auch Zeichen für eine Krise des zionistischen Projekts—und damit eine Bedrohung für die imperiale Ordnung im Nahen Osten.

Der Aufstieg der zionistischen Rechtsradikalen

Mit den Wahlen von November 2022 zur Knesset, dem israelischen Parlament, konnte der rechtsradikale Flügel sich von seinem Randdasein in der israelischen Parteienlandschaft in die Mitte der Gesellschaft katapultieren. Er wurde damit zu der entscheidenden Kraft in Ministerpräsident Benjamin Netanjahus Regierungsbündnis. Bezalel Smotrich, Chef der rechten Partei HaTzionut HaDatit (Religiöser Zionismus), ist jetzt Finanzminister, und Itamar Ben-Gvir, Vorsitzender der Partei Otzma Jehudit (Jüdische Stärke), ist Minister für öffentliche Sicherheit. Beide treten für die vollständige Annexion des Westjordanlands und die Abschaffung der Palästinensischen Autonomiebehörde ein. Sie kritisieren den Rückzug Israels aus dem Gazastreifen von 2005 und unterstützen den extremsten und mörderischsten Flügel der Siedlerbewegung.5 Sie sind faktisch Pogromisten, die nicht nur tödliche Angriffe der IDF auf Palästinenser:innen befürworten, sondern bewaffnete Siedler:innen gezielt zu Terror und Pogromen anstiften. Ihrer Ansicht nach ist die Nakba (Katastrophe), die blutige Vertreibung von etwa 750.000 Palästinenser:innen aus Israel im Jahr 1948, unvollendet geblieben. Laut Smotrich hat David Ben-Gurion, Israels erster Ministerpräsident, unter dessen Oberaufsicht die ethnische Säuberung Palästinas im Jahr 1948 vollzogen wurde, „seinen Job nicht vollendet“.6 Smotrich nennt sich auch selbst stolz einen „faschistischen Homophoben“.7

Ben-Gvirs Partei steht in der Tradition der terroristischen Bewegung Kach, die von Rabbi Meir Kahane gegründet und im Jahr 1994 in Israel verboten wurde. Als er als Kandidat zu den Wahlen antrat, hatte Ben-Gvir ein Porträt des Terroristen Baruch Goldstein in seinem Wohnzimmer hängen—Goldstein tötete im Jahr 1994 29 muslimische Betende in der Ibrahimi-Moschee von Hebron (Juden als Patriarchengrab bekannt).8 Als palästinensische Bewohner in Scheich Dscharrah, Ostjerusalem, im Jahr 2021 gegen ihre Vertreibung protestierten und weitere Palästinenser:innen ihnen zu Hilfe kamen, tauchte Ben-Gvir mit seinen Anhängern auf, bedrohte die Protestierenden mit einer Pistole und forderte die Soldaten auf, steinewerfende Kinder zu erschießen.9 Im Wahlkampf von 2022 ertönten auf seinen Kundgebungen Sprechchöre wie „Tod den Arabern“.10

Israels religiöse Rechte verzeichnet eine wachsende Anhängerschaft. Sie hat nicht nur versucht, sich als Kraft innerhalb der Strukturen des israelischen Staats zu etablieren, sondern hat auch Siedler:innen, IDF-Soldaten und die Bevölkerung insgesamt zu gewalttätigem Vorgehen aufgerufen. Wegen ihres Wahlerfolgs herrscht in der Armee ein Gefühl der Straffreiheit und die extremsten Elemente in der bewaffneten Siedlerbewegung fühlen sich bestärkt. Nach den Wahlen wurden etliche Pogrome im Westjordanland verübt; bewaffnete Siedler:innen, nicht selten mehrere Hunderte, fielen in palästinensische Dörfer ein, setzten Häuser und Autos in Brand und schossen in palästinensische Wohnungen. Gleichzeitig nannte Ben-Gvir die Hilltop Youth, junge Siedler, die bei den Pogromen im Juni 2023 palästinensische Dörfer in Brand setzten, „liebe Jungs“.11

Aber schon vor dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober war das Jahr 2023 das bisher tödlichste für Palästinenser:innen im Westjordanland, seit die UN im Jahr 2005 mit der Aufzeichnung begann. Demnach wurde wöchentlich ein Kind getötet.12 Das bestätigte aber nur einen allgemeinen Trend. Auch unter einer sogenannten Mitte-links-Regierung lagen die Zahlen bereits um 82 Prozent höher als im Jahr davor und um 500 Prozent höher als 2020.13

Eine gespaltene Siedlerbevölkerung: die israelischen Proteste von 2023

Während der gesamte zionistische Staat hinter dem Krieg gegen die Palästinenser:innen steht, scheinen der Lärm und die Wut der Massenproteste gegen die Regierung Netanjahus, die zuvor in diesem Jahr weltweit die Schlagzeilen beherrschten, abgeklungen zu sein.

Dennoch lohnt es sich, noch einmal einen Blick darauf zu werfen. Von Januar bis Oktober beteiligten sich jüdische Israelis an wöchentlichen Massendemonstrationen, manchmal mit mehreren Hunderttausend Teilnehmer:innen, gegen Netanjahus Regierungsbündnis und gegen die geplanten Gesetze, den israelischen Obersten Gerichtshof direkter politischer Kontrolle zu unterstellen. Im Juli drohten Hunderte Reservisten, unter ihnen viele Elitekampfpiloten oder Mitglieder von Spezialeinheiten, damit, ihren Freiwilligendienst nicht anzutreten (obwohl dieselben Reservisten nach dem 7. Oktober bereitwillig in den Krieg gegen die Palästinenser:innen zogen).

Zwischen den konkurrierenden zionistischen Lagern kam es zu scharfen verbalen Auseinandersetzungen. Führende Oppositionspolitiker denunzierten vor Zehntausenden protestierenden Israelis die Regierung und ihre Ministerriege als „faschistisch“. Die Regierungskoalition wiederum nannte die Opposition „Terroristen“ und Staatsfeinde.

Diese Demonstrationen hatten jedoch eine Besonderheit: Sie wurden von wichtigen Personen des zionistischen Establishments angeführt: ehemaligen Verteidigungsministern und Justizministern, die immer ausdrücklich für die Aufrechterhaltung der systematischen Unterdrückung der Palästinenser:innen eingetreten waren. Als kleine Gruppen radikaler Demonstrant:innen mit palästinensischen Fahnen teilnehmen wollten, wurden ihnen diese aus der Hand gerissen. Kein Wunder also, dass keine Palästinenser:innen auf diesen Demonstrationen zu sehen waren.

Laut der Opposition und ihren liberalen Anhängern in Europa und in den USA stellte diese Regierung einen Bruch mit Israels „demokratischen Werten“ und Gründungsprinzipien dar, der Gesetzesentwurf sei ein unmittelbarer Angriff auf die Säulen der „Demokratie“ Israels. Dieser Beschreibung würden Palästinenser:innen kaum zustimmen können. Im Gegenteil haben die Urteile des Obersten Gerichtshofs entscheidend zur Aufrechterhaltung eines Apartheidregimes, der illegalen Besetzung und des Siedlungsbaus beigetragen. Das Gericht hat die Zerstörung palästinensischer Häuser für rechtens erklärt, ebenso die militärische Verwaltungshaft ohne Anklage und Verfahren und die gezielte Tötung.

Der Oberste Gerichtshof hat auch das Nationalstaatsgesetz bestätigt, das im Jahr 2018 verabschiedet wurde, in dem die rassistischen Prinzipien der israelischen Verfassung verankert wurden, wonach Nichtjuden kein Recht auf Selbstbestimmung haben. Hier stehen wir vor einer brutalen Wahrheit: Jeder israelische jüdische Staatsbürger lebt auf von Palästinenser:innen gestohlenem Land. Viele leben in Häusern, die auf den Ruinen palästinensischer Dörfer errichtet wurden, und in Häusern von 1948 Vertriebenen. Das ist keine Geschichte der Vergangenheit. Die Staatsbürgerschaft in Israel beruht auf dem beständigen Ausschluss und der Enteignung der Palästinenser:innen, die noch im historischen Palästina leben, und der Verweigerung des Rechts der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr. Der israelische Staat ist bestrebt, seine Siedlerbevölkerung ständig zu erneuern und damit den Prozess der Enteignung der Palästinenser zu einem festen Bestandteil seines Systems zu machen.

Die innerhalb der israelischen Siedlergesellschaft aufgebrochenen Spaltungen haben zwei Hauptgründe: Der erste ist die Struktur der israelischen Siedlergesellschaft selbst. Seit seiner Gründung hat Israel in mehreren Schüben Siedler:innen angezogen, um Palästina zu kolonisieren und eine bewaffnete Kraft gegen den Widerstand der Palästinenser:innen und seine Feinde unter den arabischen Staaten aufzubauen. Die erste Siedlungswelle betraf aschkenasische Juden aus Europa, die vor dem Antisemitismus vor und nach dem Holocaust Schutz suchten. Unter diesen europäischen Jüd:innen war es insbesondere der säkulare Arbeiterzionismus, der den Grundstein für den Staat legte.

Dieser ersten Welle folgten in den 1940er und 1950er Jahren Misrachi- und sephardische Juden aus Nordafrika und dem Nahen Osten. Diese Juden erfuhren Diskriminierung und Verachtung seitens der aschkenasischen israelischen Elite; als Siedler teilten sie jedoch die erbitterte Feindseligkeit gegenüber den Palästinenser:innen. Es folgten weitere Siedlerwellen. Die wichtigste von ihnen bestand aus der Masseneinwanderung säkularer Juden aus Russland Ende der 1980er und in den 1990er Jahren.

Jede neue Siedlergeneration trug jedoch ihre eigenen Ansprüche in die koloniale Siedlergesellschaft hinein und gründete eigene politische Parteien. In der Knesset versuchen sie ihre jeweiligen Interessen zu vertreten und Zugeständnisse und Privilegien zu erringen. Die Parteien sind entlang religiöser, säkularer und politischer Fragen gespalten. So gibt es Spannungen über LGBT+-Fragen und Frauenrechte, über säkulare und religiöse Fragen und sogar darüber, welche Art der Abstammung dazu berechtigt, eine jüdische Identität zu beanspruchen. Die politischen Schlachten sind kein Zufall; sie spiegeln die Spaltungen innerhalb der israelischen siedlerkolonialen gesellschaftlichen Struktur wider. Das israelische Schulsystem ist zum Beispiel gespalten zwischen säkularen, nationalreligiösen und ultraorthodoxen Gemeinschaften (und natürlich den Arabern). Schüler:innen leben in getrennten Vierteln, lernen in unterschiedlichen Fächern und wachsen getrennt voneinander auf.

Die Siedlergesellschaft und der Aufstieg der Rechten

Die zweite Wurzel der Unruhen in Israel ist der Rechtsschwenk in der israelischen Gesellschaft, der immer offener Rassismus, Apartheid und Gewalt zum Ausdruck bringt. Das ist ein langfristiger Trend als Reaktion auf den palästinensischen Widerstand einerseits und eine vermeintliche äußere Bedrohung andererseits.

Nach drei Jahrzehnten einer arbeiterzionistischen Regierung gewannen die revisionistischen Zionisten14 der Likud die Wahl von 1977. Sie wurden auf einer Woge des Grolls unter Misrachijuden, des Schocks über den überraschenden Angriff der arabischen Staaten im Krieg von 1973 und des Zorns über den fortgesetzten palästinensischen Widerstand unter Führung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zum Erfolg getragen.

Der nationalreligiöse Zionismus entstand als politisch noch rechtere Antwort auf die Erste Intifada Ende der 1980er Jahre und er konnte seine Position nach der Zweiten Intifada in den 2000er Jahren und dem Scheitern des Osloer Abkommens noch ausbauen. Diese Kräfte erlebten, nachdem sie in der israelischen Politik eine politischen Randerscheinung gewesen waren, ihren Durchbruch nach dem palästinensischen Aufstand von 2021, der sogenannten Einheitsintifada. Bei der Wahl von 2022 konnten sie schließlich Erfolge verbuchen. Der Arbeiterzionismus, der bisher jede israelische Regierung seit drei Jahrzehnten nach 1948 beherrscht hatte, erhielt nur 4 Prozent der Stimmen. Meretz, der Flügel des Arbeiterzionismus, der am engsten mit einer „Zweistaatenlösung“ verbunden war, konnte keinen einzigen Sitz in der Knesset erobern. Es ist bezeichnend, dass Smotrich und Ben-Gvir ihre stärkste Unterstützung unter jungen Israelis gefunden haben, die auf rechten Demonstrationen und Kundgebungen am lautesten „Tod den Arabern!“ und „Möge euer Dorf brennen!“ gerufen hatten. Die am meisten rechts esten Elemente in der israelischen Gesellschaft sind 18 bis 24 Jahre alt; nur 20 Prozent jüdischer Israelis zwischen 18 und 34 Jahren unterstützen eine Zweistaatenlösung, 68 Prozent lehnen sie ab.15

Das zionistische Projekt in der Krise

Hinter dem Rechtsruck der Siedlergesellschaft verbirgt sich eine Krise des zionistischen Projekts selbst. Dieses Projekt gründete auf der Enteignung der Palästinenser:innen. Enteignung ist aber kein im Jahr 1948 abgeschlossener historischer Akt gewesen. In gewisser Hinsicht ist die Nakba permanent. Es gibt einen ungebrochenen Prozess der Enteignung und des Ausschlusses der Palästinenser:innen im Westjordanland, in Ostjerusalem und im Gazastreifen—dazu müssen auch die 7 Millionen Palästinenser:innen in den Flüchtlingslagern im Nahen Osten und die in der Diaspora gezählt werden, deren Recht auf Rückkehr für die Freiheit der Palästinenser:innen unveräußerlich ist.

Zwei Jahrzehnte lang nach 1948 schienen die Palästinenser:innen unterworfen gewesen zu sein. Im Jahr 1968 erklärte die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir bekannterweise:

So etwas wie Palästinenser gab es nicht […]. Es war nicht so, dass ein palästinensisches Volk in Palästina existiert hätte, das sich selbst als palästinensisches Volk betrachtet hätte, und wir kamen und warfen es raus und raubten ihm sein Land. Sie existierten nicht.16

Die Realität des palästinensischen Widerstands strafte Meir mit ihrer rassistischen Erklärung Lügen. Nach der durch Israel den arabischen Staaten im sogenannten Sechstagekrieg von 1967 zugefügten Niederlage lebte dieser Widerstand in Gestalt des bewaffneten Kampfs unter Führung der PLO wieder auf. Die PLO wurde schließlich im Libanonkrieg von 1982 geschlagen, ihre Führung musste ins Exil gehen und sie fristete in Tunis ihr Dasein.

Ein „Sieg“ über die Palästinenser:innen war aber offenbar nicht erreicht worden, denn fünf Jahre später brach eine Massenbewegung der Palästinenser:innen im Westjordanland und im Gazastreifen aus, die Erste Intifada. Das Osloer Abkommen von Anfang der 1990er Jahre war in erster Linie der Versuch, den Massenwiderstand zu brechen und eine weitere Intifada zu verhindern mit dem falschen Versprechen eines künftigen palästinensischen Staats und der Einbindung der PLO-Führung, während gleichzeitig die Siedlungen im Westjordanland massiv ausgebaut wurden. Damit wurde jedoch nur die Saat für die Zweite Intifada von Anfang der 2000er Jahre gesät und für den Aufstieg der Hamas und ihren Wahlsieg im Jahr 2006.

Nachfolgende israelische Regierungen suchten die Zusammenarbeit mit der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland und in Ostjerusalem, wobei die Ausweitung des Siedlungsbaus und die militärische Besetzung dazu dienten, die Palästinenser zu zersplittern und zu unterdrücken. Der Gazastreifen wurde mehrfach militärisch angegriffen und eine Blockade über den Landstrich verhängt, was ihn in ein Gefängnis unter freiem Himmel verwandelte. Palästinensische Bürger von „1948“ (jene innerhalb der offiziellen Grenzen des israelischen Staats) wurden als Menschen dritter Klasse betrachtet und waren staatlicher, rechtlicher und sozialer Unterdrückung ausgesetzt.

Israel glaubte, es könnte die verschiedenen Sektionen der palästinensischen Gesellschaft erfolgreich auseinanderdividieren und isolieren. Diese Taktik wurde mit dem Ausbruch der Einheitsintifada, die im Mai 2021 einsetzte und das gesamte Gebiet des historischen Palästinas erfasste, auf die Probe gestellt. Und schließlich erschütterte der Angriff der Hamas vom 7. Oktober jede Illusion innerhalb des Staats und der Siedlerbevölkerung, dass die Palästinenser:innen in Schach gehalten oder unterworfen worden wären.

Eine Krise des Imperialismus

Israel muss also eine nicht endende Besatzungspolitik verfolgen, was immer wieder Widerstand hervorruft. Das ist nicht nur für den israelischen Staat von Bedeutung, sondern auch für die USA, die ihn bewaffnen und finanzieren. Israel ist der größte Empfänger von angesammelter US-amerikanischer Militärhilfe seit 1945. Die US-amerikanischen Verpflichtungen von 1946 bis 2023 werden auf rund 260 Milliarden Dollar geschätzt.17

Es stimmt, dass die USA sich auch auf verbündete arabische Regime stützen. Allerdings ist auf Israel auf eine Weise Verlass, wie es niemals für seine benachbarten Regime gelten wird. Immer wieder wurden Bollwerke des US-amerikanischen Imperialismus von den Massen der Region gestürzt, was den Einfluss des US-Imperialismus dort bedrohte. So war es mit dem Sturz von Mohammed Resa Pahlewi, dem Schah von Iran, in der iranischen Revolution von 1979 und dem Sturz von Husni Mubarak in der ägyptischen Revolution im Jahr 2011. Noch immer gibt es Nachwirkungen der arabischen Revolutionen der Jahre 2010/11 im Nahen Osten und in nordafrikanischen Staaten und sie könnten in neuer Form wieder aufflammen und die imperialistische Ordnung erschüttern.

In dieser Hinsicht weist Israel eine Besonderheit auf: Kein siedlerkolonialer Staat hat sich jemals selbst aufgelöst. Damit wird Israel zu einem einzigartigen und wichtigen Stützpunkt für imperialistische Interessen im Nahen Osten. Jeder Aspekt des israelischen Staats—seine Wirtschaft, seine Armee, die Gesellschaft und Politik—sind durch seine Verbindungen mit dem US-Imperialismus geprägt.

Das Muster der US-amerikanischen Militärhilfen für Israel ist sehr erhellend. Im Jahr 1967, während des Sechstagekriegs, überholten die USA Frankreich als Israels Hauptsponsor, während Israel sich als mächtige Kraft im Nahen Osten bewies. Es waren jedoch die späteren Ereignisse, die die USA dazu brachten, beispiellose Summen für militärische Unterstützung zur Verfügung zu stellen (siehe Grafik). Die erste starke Anhebung der Finanzhilfe erfolgte nach Jordaniens Schwarzem September im Jahr 1970, als die jordanische Monarchie mit einem Aufstand der palästinensischen Flüchtlingsbevölkerung und ihrer eigenen konfrontiert war und Israel faktisch Jordanien zu Hilfe kam, indem es Syrien abwehrte. Eine weitere starke Steigerung der US-Militärhilfe erfolgte nach dem Jom-Kippur-Krieg von Oktober 1973, aus dem Israel zwar als Sieger hervorging, aber doch plötzlich als militärisch verwundbar erschien. Seitdem blieb die Militärhilfe auf hohem Niveau, um Israels „qualitativen militärischen Vorsprung“ zu garantieren—eine qualitative militärische Überlegenheit über die arabischen Staaten, die während der Präsidentschaft Barack Obamas auch gesetzlich festgeschrieben wurde. Der historisch höchste Anstieg der Militärhilfe erfolgte nach der Iranischen Revolution von 1979 und dem Sturz des von den USA unterstützten Schahs, was mit dem Camp-David-Abkommen zusammenfiel, einem Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten. Ab diesem Zeitpunkt wurde auch Ägypten ein Hauptempfänger von US-amerikanischer Hilfe.

Der palästinensische Widerstand und der Kampf für Freiheit sind untrennbar mit den Kämpfen der arabischen Massen gegen ihr eigenes Regime verbunden. Der palästinensische Kampf wurde während der Revolutionen in der arabischen Welt 2010/2011 immer wieder beschworen. Am Nakba-Tag im Mai 2011 versuchten Tausende, sich der israelischen Grenze vom Libanon aus, von Syrien, Ägypten und Jordanien zu nähern oder diese zu durchbrechen. Im September 2011 wurde die israelische Botschaft in Kairo von einer großen Menge belagert. Tausende durchbrachen die Sicherheitsmauer und besetzten und plünderten die Botschaft zwei Tage lang. Das Botschaftspersonal musste in Sicherheit gebracht werden und der Botschafter und 85 Diplomaten flohen nach Tel Aviv. Kein Wunder, dass Netanjahu die arabischen Revolutionen zu einer größeren Bedrohung der israelischen und westlichen Interessen erklärte als feindliche Regimes wie Syrien.

Das erklärt auch, warum das Abraham-Abkommen zwischen Israel und den US-amerikanischen Verbündeten im Nahen Osten von so hoher Bedeutung ist. Als eine Folge des Angriffs der Hamas und von Israels Krieg gegen Gaza ist der Versuch, dieses Abkommen auch auf Saudi-Arabien zu übertragen, hinfällig geworden. Die arabischen Staaten waren stattdessen gezwungen, sich aus Angst vor der eigenen Bevölkerung von Israel zu distanzieren.

Das Potenzial des palästinensischen Kampfs, Revolten auch andernorts auszulösen, erklärt auch die Spannungen, die zwischen der „Festung Israel“ und den USA entstehen können. Für Israel ist die Unterdrückung des palästinensischen Widerstands in bestimmten Momenten oberstes Gebot. Der trotz Israels militärischer Macht, seiner Apartheidmauer und der Blockade des Gazastreifens und der Zusammenarbeit mit der palästinensischen Autonomiebehörde immer wieder aufflammende Widerstand hat den nationalreligiösen Zionisten und den säkularen Rechtsradikalen Auftrieb gegeben. Selbstverständlich werden die USA, Großbritannien und die europäischen Mächte Israel immer als Bollwerk für die Verfolgung ihrer eigenen imperialistischen Interessen verteidigen, unabhängig von dem jeweiligen politischen Regime und egal, welche Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen es begeht. Sie stehen jedoch vor der Frage, wie sie verhindern können, dass der palästinensische Kampf Zündfunke einer größeren antiimperialistischen Revolte wird. Während das Ziel des siedlerkolonialen Staats darin besteht, palästinensischen Widerstand mit allen notwendigen Mitteln zu zerschlagen, fürchten die imperialistischen Mächte um die Stabilität der arabischen Regime und die imperialistische Ordnung im Nahen Osten. Diese Spannung könnte sich auf unvorhersehbare Weise auswirken.18

Wessen Lösung?

Wahre Befreiung kann nur nationale Freiheit für alle Palästinenser:innen im historischen Palästina und in der palästinensischen Diaspora bedeuten. Die Zweistaatenlösung war schon immer eine Fata Morgana. Keine einzige israelische Regierung hat jemals einen unabhängigen palästinensischen Staat befürwortet—oder auch nur den Anschein eines solchen. Seit 1967 wurden unter jeder Regierung der Ausbau der Siedlungen, die ethnische Säuberung und die Verschärfung der Apartheid im Westjordanland vorangetrieben. Keine israelische Regierung wird die Kontrolle über das Westjordanland, Ostjerusalem oder den Gazastreifen jemals aufgeben. Es gibt ein siedlerkoloniales Regime vom Fluss bis zum Meer: ein einziges System der Vorherrschaft. Dieses beinhaltet einen Zustand permanenten Konflikts und der militärischen Besetzung, die nur dem Namen nach vorübergehend ist.

Quelle: US-Regierung Green Book Data und sgp.fas.org/crs/mideast/RL33222.pdf

Zwecks Vergleichs wurden die Daten in den derzeitigen Dollarkurs umgerechnet. Die Finanzhilfe beinhaltet Darlehen wie auch Zuschüsse. In der Regel werden die Darlehen jedoch vor Fälligkeit erlassen. Nicht in diesen Daten enthalten ist die Subventionierung der Raketenabwehr.

Für das Siedlerregime ist die schiere Existenz der Palästinenser:innen eine allgegenwärtige Bedrohung, die sich bisher als unlösbar erwiesen hat.

Die Ultrarechten haben dafür eine Lösung: Im Jahr 2017 entwarf Smotrich, damals Mitglied der rechtsradikalen Partei Jüdisches Heim, einen „Entscheidungsplan“, der von folgenden Prämissen ausgeht:

Es gibt einen unüberbrückbaren Widerspruch zwischen der Existenz des jüdischen Staats und den nationalen Bestrebungen der Palästinenser:innen. […] Die palästinensische Nationalbewegung ist das Gegenbild des Zionismus. Deshalb kann sie auch keinen Frieden mit ihm schließen.

Der einzige Weg zum „Frieden“, betont Smotrich, bestehe darin, Anspruch auf das gesamte palästinensische Land zu erheben und neue Städte und Siedlungen tief im Westjordanland zu errichten. Die Palästinenser:innen hätten dann die „Option“, Großisrael, das ihnen Gleichberechtigung verwehrt, anzuerkennen, oder mit einer Abfindung das Land zu verlassen—oder getötet zu werden. Israel würde keine Anweisungen aus den USA und von der „internationalen Gemeinschaft“ mehr befolgen. Stattdessen müsste die Welt diese neue Realität akzeptieren.19

Smotrich ließ sich in diesem Dokument endlos darüber aus, dass er zwar glaube, ein Großisrael sei von Gott als Staat der Juden bestimmt, der „Entscheidungsplan“ sei dennoch nicht von religiöser Ideologie geprägt. Es sei vielmehr ein praktikabler Plan, um die ausweglose Lage angesichts der widerstreitenden jüdischen und palästinensischen nationalen Bestrebungen zu überwinden. Diese Formulierung spiegelt das wachsende Bündnis zwischen den religiösen Zionisten und den säkularen Ultrarechten wieder.

Der nationalreligiöse Zionismus erfreut sich eines wachsenden Anhangs und versucht, sich als Kraft innerhalb der Staatsstrukturen zu etablieren. Er wird sich jedoch gegen jede Beschränkung durch diese Strukturen wehren, indem er die Siedlerbewegung, die unteren Ränge der Armee und die Bevölkerung zur Gewalt anstachelt. Während der Pogrome vom Juni 2023 wies Ben-Gvir Siedler an, „auf die Hügel“ zu gehen, womit er auf die gewalttätigsten Siedler, die Hilltop Youth, anspielte: „Wir sollten das Land Israel besiedeln, die Gebäude niederreißen und die Terroristen ausrotten. Nicht einen oder zwei, sondern Dutzende und Hunderte—und wenn nötig, auch Tausende.“20

Diese Kräfte wollen den Status quo nicht mehr hinnehmen. Das erklärt die giftigen Auseinandersetzungen zwischen Figuren wie Ben-Gvir und Smotrich und ihren Anhängern einerseits, und den Befehlshabern der IDF und der Polizei andererseits. Im Sommer 2023 kam es deshalb zu der bizarren Situation, dass die IDF und die israelische Polizei eine gemeinsame Erklärung abgaben, gewalttätige Angriffe von Israelis auf palästinensische Zivilisten:innen seien mit „der Moral und den jüdischen Werten“ nicht zu vereinbaren und seien „nationaler Terrorismus“.

In bestimmter Hinsicht war das nicht nur Show, sondern es spiegelte eine Spaltung in den Reihen der Vertreter des Zionismus wider über die Frage, wie die Enteignung der Palästinenser:innen erfolgen sollte. Die IDF hat die gewalttätigen Siedler unterstützt, aber sie wollte die politische Kontrolle darüber behalten. Das israelische Establishment und die USA haben ein strategisches Interesse daran, dass die Palästinensische Autonomiebehörde weiterhin Teile des Westjordanlands unter Kontrolle hat und dort die Palästinenser:innen in Schach hält. Im Juni 2023 erklärte Netanjahu deshalb vor dem Knesset-Komitee für Auslandsangelegenheiten und Sicherheit: „Dort wo die Palästinensische Autonomiebehörde erfolgreich arbeitet, erledigt sie die Arbeit für uns und wir haben kein Interesse an ihrem Sturz.“21

Der zionistische Apparat und die IDF-Generale haben nach wie vor Interesse an einer schwachen und kompromittierten Palästinensischen Autonomiebehörde und würden sie unter Umständen sogar als Ersatz für die Hamas im Gazastreifen benutzen. Im Gegensatz dazu wollen Smotrich und Ben-Gvir die PA abschaffen, das Westjordanland annektieren und Israel ohne jede Scham zu einem Vorbild der rassischen Vorherrschaft vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer erklären, ohne noch einen Unterschied zu machen zwischen einem Palästinenser, der in Tel Aviv, in Gaza-Stadt oder Dschenin lebt.

Nach dem 7. Oktober

Im Juli 2023 hatte ich gesagt:

Weil es Israel nicht gelungen ist, die Palästinenser:innen zu unterwerfen, greift es zu noch mehr Gewalt und offenem Rassismus. Der Status quo wird zunehmend als ein Kompromiss angesehen, der den jüdischen Staat angreifbar macht. Dennoch droht die religiöse Ideologie, die den Anspruch auf das gesamte historische Palästina begründen soll, die imperialistische Ordnung zu destabilisieren und sie verschärft tiefe Widersprüche innerhalb der Siedlergesellschaft selbst.22

Die beiden oben angeführten Aspekte sind weiterhin gültig. Der Hinweis auf zunehmende Gewalt muss kaum weiter ausgeführt werden angesichts der genozidalen Reaktion Israels auf den Angriff der Hamas vom 7. Oktober. Wir müssen das Bild zerstören, wonach Netanjahus Regierungsbündnis und seine rechtsradikalen Minister einen Bruch mit den Gründungswerten des israelischen Staats darstellen. Dies stellt keine Abweichung dar, sondern ist Ergebnis und Antrieb des zionistischen Projekts zugleich.

Nach dem Angriff vom 7. Oktober wurde genozidale Rhetorik im gesamten politischen Spektrum Israels hoffähig. Ben-Gvirs Antwort auf den Ruf nach Hilfslieferungen für die Bevölkerung in Gaza lautete: „Das Einzige, was in den Gazastreifen gehört, sind Hunderte Tonnen von Sprengstoff der Luftwaffe—und kein einziges Gramm humanitärer Hilfe.“23 Ein anderer Minister von Ben-Gvirs Partei Jüdische Stärke sagte einem Interviewer, dass der Abwurf einer Atombombe auf Gaza „denkbar“ wäre.24 Smotrichs Lösung lautete, zur „freiwilligen Emigration der Araber von Gaza in die Länder der Welt“ aufzurufen, „das ist die wahre humanitäre Lösung für die Bewohner Gazas und für die gesamte Region nach 75 Jahren von Flüchtlingen, Armut und Gefahr“.25 Die Vorstellung von einer „freiwilligen“ Emigration ist offensichtlich ein böser Scherz.

Die Völkermordrhetorik beschränkt sich aber nicht auf die religiösen Zionisten der radikalen Rechten. Joaw Gallant, der Verteidigungsminister von Netanjahus Partei Likud, erklärte: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere […]. Wir werden alles vernichten.“26 Jair Lapid, ehemaliger Ministerpräsident und derzeitiger Vorsitzender der „gemäßigten“ Opposition, gehörte zu den Stars der Proteste gegen die Regierung; als er nach der Ermordung von 12.000 Zivilist:innen in Gaza gefragt wurde, antwortete er: „Die Mehrheit der Getöteten waren Hamas-Terroristen. […] Und tschüs!“27 Isaac Herzog, Präsident Israels und ein prominenter Arbeiterzionist, erklärte: „Da draußen ist eine ganze Nation, die dafür verantwortlich ist. […] Diese Rede von ahnungslosen Zivilisten, von Unbeteiligten ist einfach nicht wahr.“28

Hinter diesen mörderischen Erklärungen steht eine entstellte Wahrnehmung der Realität. Der palästinensische Widerstand kommt von innen eben wegen der Enteignung und Unterdrückung. In einer neueren Umfrage sagten 89 Prozent der Befragten Palästinenser:innen, dass der Angriff vom 7. Oktober wegen der historischen und fortgesetzten Unterdrückung stattgefunden habe. Zusätzlich unterstützten 75 Prozent den von der Hamas angeführten Angriff palästinensischer Fraktionen und nur 13 Prozent lehnten ihn ab. Die Unterstützung für den Angriff war im Westjordanland am höchsten.29

Israels Strategie der Eindämmung, Unterdrückung und des Abschlusses von Verträgen mit den arabischen Machthabern hatte sich als gescheitert erwiesen. Das hat eine völkermörderische Dynamik in der israelischen Siedlerideologie in Gang gesetzt. Alle Palästinenser:innen sind nun „Hamas“. Möglicherweise wird diese Logik nicht bis zu ihrem bitteren Ende verfolgt, aber das ist die Dynamik, die nun den israelischen Angriff antreibt, und sie sollte uns mit Schrecken erfüllen.

Das israelische Regime

Der Aufstieg der Rechtsextremen bei den Wahlen von 2022 wirft die Frage nach dem Wesen des israelischen Regimes auf. Es ist sehr nachvollziehbar, warum viele das Regime als „faschistisch“ ansehen—erst recht, wenn diese Ansicht von Palästinenser:innen vertreten wird. Diese Einordnung ist jedoch in mehrfacher Hinsicht falsch. Nicht zuletzt lässt sie den siedlerkolonialen Charakter Israels, der die gesamte Gesellschaft prägt, außer Acht. Es ist kein Zufall, dass die „Opposition“ zu Netanjahu das Etikett „faschistisch“ geradezu inflationär einsetzte (wie auch liberale Unterstützer Israels in anderen Gegenden der Welt), da es ihnen zu leugnen ermöglichte, dass die extreme Rechte ein organisches Merkmal des zionistischen Regimes selbst ist.

Ein faschistisches Regime zeichnet sich jedoch durch die Mobilisierung von gewaltbereiten Massen aus, die gegen die eigene Bevölkerung und die eigene arbeitende Klasse vorgehen. Der Siedlerkolonialismus besitzt eine andere Dynamik, wobei er allerdings, wie die Geschichte gezeigt hat, zu ethnischen Säuberungen und durchaus zu Völkermord fähig ist. Wenn wir das zionistische Regime nicht als „faschistisch“ bezeichnen, heißt das jedoch nicht, dass wir seinen seit 75 Jahren gegen das palästinensische Volk gerichteten Rassismus, die Gewalt und die ethnische Säuberung herunterspielen. Auch die völkermörderischen Elemente der zionistischen Ideologie werden dadurch nicht abgestritten. Wir haben es mit einem Siedlerkolonialstaat zu tun, der vom Imperialismus unterstützt wird, und der Siedlerkolonialismus hat eine lange und sehr blutige Geschichte.

Aber auch der zweite Aspekt, den ich oben genannt habe, bleibt wichtig. Trotz der vereinten zionistischen Reaktion auf den Angriff der Hamas vom 7. Oktober gibt es Spaltungen und Spannungen innerhalb des israelischen Staats. Für die USA, andere westliche Imperialisten und die herrschenden Klassen im Nahen Osten birgt die Lage einige Gefahr. Die Möglichkeit der Wiederkehr der Arabischen Revolution spukt in den Hauptstädten des Imperialismus.

Deshalb sind die internationalen Massenproteste und Demonstrationen so wichtig. Das ist auch der Grund, warum US-Präsident Joe Biden darauf besteht, dass die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland ihre Rolle weiter spielen soll und diese vielleicht sogar auf den Gazastreifen ausdehnt. Deshalb fordert er auch, dass Israel davon absieht, den Gazastreifen dauerhaft zu besetzen und die palästinensische Bevölkerung zu vertreiben. Die USA fürchten um die Stabilität in der gesamten Region und sind nach wie vor bestrebt, die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass Israel eine „Demokratie“ sei und dass die USA sich für die palästinensische Eigenstaatlichkeit einsetzen.

Unsere Unterstützung für den palästinensischen Kampf und unsere Hoffnung auf den Sieg des Widerstands ist eine Kernfrage der internationalen Solidarität. Aber es geht um mehr. Die Sache der palästinensischen Freiheit ist untrennbar mit dem Kampf gegen die imperialistische Ordnung im Nahen Osten und dem übergreifenden revolutionären Kampf für Befreiung und Sozialismus verbunden. Dies ist ein Kampf für eine Welt frei von Imperialismus, Krieg, Rassismus, Apartheid und nationaler Unterdrückung—eine Welt, in der Palästina vom Fluss bis zum Meer frei sein wird.


Noten

1 Noch wenige Wochen vor Verfassen dieses Artikels hätte ich es abgelehnt, den Begriff „Völkermord“ für Israel und Palästina zu verwenden, und zwar aus ähnlichen Gründen, wie sie auch von anderen vertreten wurden, einschließlich der Palästina-Solidaritätskampagne. Ich hoffe, in diesem Artikel wird deutlich, dass ich den Begriff hier nicht als eine „emotionale“ Reaktion auf die Situation verwende. Vielmehr ist es jetzt die Kategorie, die die Absichten und die Ideologie, die hinter Israels Angriff auf Gaza stehen, am besten beschreibt.
(„Roadmap for peace“ wurde der sogenannte Friedensplan für Israel/Palästina, vorgestellt im Jahr 2002 von dem damaligen US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush, genannt. Dank an David Paenson, der diese Übersetzung durchgesehen hat.)

2 Zit. n. Palestine Chronicle (2023).

3 United Nations News (2023 a).

4 United Nations News (2023 b).

5 Times of Israel (2019).

6 Shpigel (2021).

7 Ha’aretz (2023).

8 Kingsley (2023).

9 Times of Israel (2022).

10 Ha’aretz (2022).

11 Jerusalem Post (2023).

12 Relief Web (2023); Shakir (2023).

13 Euro-Mediterranean Human Rights Monitor (2023).

14 Diese Strömung will die Entscheidung der UN von 1947 revidieren, wonach Palästina in einen jüdischen und in einen arabischen Staat geteilt werden sollte, mit anderen Worten beanspruchen sie das gesamte Palästina für einen jüdischen Staat.

15 Robbins (2023).

16 Soussi (2019).

17 Congressional Research Service (2023).

18 Siehe hierzu Anne Alexanders Artikel in diesem Magazin.

19 Smotrich (2017).

20 Shezaf (2023). Der Begriff „Land of Israel“ beinhaltet das zionistische Konzept, das gesamte historische Palästina für sich zu reklamieren, einschließlich des Westjordanlands, das die israelischen Behörden mit seinem angeblich „biblischen“ Namen „Judäa und Samaria“ bezeichnen.

21 Jewish Chronicle (2023).

22 Abschrift eines Vortrags auf dem Marxism Festival 2023.

23 Al Jazeera (2023).

24 Camut (2023).

25 Reuters (2023).

26 Nereim/Rubin/Ward (2023).

29 Arab World for Research and Development, 2023.


Literaturverzeichnis

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